Illustrationen müssen „im geschäftlichen Interesse ein bischen lügen“ – Medienkritik im Jahr 1888

„Die Xylographen unserer illustrierten Zeitungen fixieren mit unermüdlicher Eilfertigkeit die brühwarmen Ereignisse vom letzten Datum. Ihre nächste Aufgabe ist es, der sinnlichen Vorstellungsträgheit der Zeitungsleser nachzuhelfen, nicht aber ein urkundliches Bild des Faktums zu geben, was in den meisten Fällen gar nicht geleistet werden kann. […] Und was hierbei das Bedenklichste ist: die Kunst, welche die ehrlichste sein sollte, weil sie direkt der Natur verpflichtet ist, sie lernt lügen, ja sie muß im geschäftlichen Interesse ein bischen lügen. Auch auf dem Schauplatz des Ereignisses kann derReporter mit der Zeichenmappe, der vielberufene ‚Spezial-Artist‘, ohne eine gewissen Anschauungsschablone nicht fertig werden; selbst die flinkste Sehkraft wäre dem Wettlauf mit dem rein Momentanen nicht gewachsen. Das Illustrations-Gewissen ist denn mit der Zeit ziemlich lax geworden. Das große Reitergefecht, von welchem das letzte Telegramm berichtete, muß möglichst rasch gebracht werden. Warum nicht? Nach den gegebenen Terrainverhältnissen, nach der von den Manövern her bekannten Kampfweise der beiden Kriegsparteien dürfte das ganz so beiläufig ausgesehen haben. Dieses ‚So beiläufig‘ ist das Sujet der Illustration. Ganz ebenso, wenn es sich um das Bild einer Regatta, einer Illumination, eines pomphaften Empfanges allerhöchster Gäste, eines Festbanketts zu irgend einer Säkularfeier u.s.w. handelt.“ (Bayer 1888, S. 3)

Ein Beispiel für das laxe „Illustrations-Gewissen“

Extrabeilage zu Ueber Land und Meer Nr 24/1888,  S. 1
Die Gartenlaube Nr. 11/1888, S. 169

 Das Ereignis: Die Fahne auf dem kaiserlichen Palais wird am 9. März 1888 auf halbmast gesetzt, um den Tod Wilhelm des Ersten bekannt zu geben. Den Lesern der Zeitschriften Die Gartenlaube und Über Land und Meer soll jeweils ein unmittelbarer Eindruck von diesem zeremoniellen Moment über eine Illustration vermittelt werden. In der Gartenlaube senkt ein Bediensteter die Fahne, während in der Zeitschrift Über Land und Meer diese Aufgabe von einem Mitglied der Leibgarde ausgeführt wird. (vgl. Der Kunstwart 1887 – 1888, S. 193) Da fragt man sich doch, welche Bedeutung es haben soll, dass in der Gartenlaube von einer „Originalzeichnung“ die Rede ist.

Literatur

Bayer, Joseph [1888]: Illustrationen. In: Neue Freie Presse vom 23. März/1888, S. 1 – 3
Der Kunstwart H. 14/1887 – 1888, S. 193


Das Kino – ein illegitimes Kind der Quantifizierung und Datafizierung

Die Filmkamera heißt es im [Brockhaus 1988, S. 293], unterscheidet sich von der Stehbildkamera „konstruktiv in der Verschluß-, der Filmtransport- und der Filmspuleneinrichtung, die es ermöglichen, eine bestimmte Anzahl Bilder in einer Sekunde zu belichten und weiterzuschalten. Erforderlich ist, daß das einzelne Bild bei der Belichtung stillsteht: der Filmtransport muß also rückweise geschehen, […].
Wichtige Beiträge zur Entwicklung einer solchen Kamera leistete der französische Physiologe Étienne-Jules Marey aus seinem wissenschaftlichen Interesse an der Analyse von Bewegungen heraus.
Muybridges Reihenaufnahmen von Pferden im Galopp weckten Mareys Interesse an der Fotografie. Aufgrund der Fortschritte in der Optik und Fotochemie[1] sah er die Chance, fotografische Verfahren als Mess- und Registriertechniken einzusetzen. Für die Untersuchungen von Vögeln im freien Flug entwickelt Marey eine „chronophotographische Flinte“.Photographische Flinte_Eder_1886_S_153
Mit Blick auf den Beitrag zur Entwicklung der Filmtechnik ist es wichtig, dass hier ein Uhrwerk[2] zum Einsatz kam, um die Trommel mit ihren Scheiben in eine intermittierende Bewegung zu versetzen, die notwendig ist, um den Lichteinfall vom Objektiv auf die lichtempfindliche Platte durch die auf den Scheiben angebrachten Schlitze so zu steuern, dass auf der Platte nacheinander Bilder aufgenommen werden können. Mit Hilfe dieses Apparates konnten die einzelnen Phasen des Flugverhaltens von Vögeln mit 10 bis 12 Aufnahmen pro Sekunde bei einer Belichtungszeit von einer 1/720 Sekunde festgehalten werden, ohne in die Bewegungsabläufe verändernd einzugreifen.
Bei sehr schnellen Bewegungen stand Marey jedoch vor dem Problem, dass sich die Mann in Schwarz_S.11Aufnahmen auf der Platte überlagerten. Um auch bei der gewünschten schnellen zeitlichen Abfolge der Aufnahmen die Bewegungen analysieren zu können, kleidete er seine Versuchspersonen schwarz und markierte z. B. nur das Bein, den Oberschenkel und den Arm auf der der Kamera zugewandten Körperseite mit hellen Streifen und Punkten [Marey 1894, S. 807].[3]

„Unter solchen Umständen lassen sich von demselben Gegenstande auf eine einzige Platte in der Secunde nicht nur zehn, sondern hundert verschiedene Aufnahmen bringen, ohne dass man die Schnelligkeit der Scheibendrehung zu steigern brauchte. Man muss dann nur statt des Schlitzes in der Scheibe deren zehn in genau gleich weiten Abständen anbringen.“ [Eder 1886, S. 187 f.]
Mit der von ihm entwickelten „photo-chronograpischen Methode“ war es Marey so zwar möglich, die Veränderungen eines Objekts, das sich mehr oder weniger schnell bewegt, in einer Abfolge von Momentaufnahmen festzuhalten. Falls sich das Objekt jedoch nur sehr langsam oder sogar nur auf der Stelle bewegte, ließen sich die einzelnen Bilder nur unzureichend von einander unterscheiden oder überlagerten sich völlig.
Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, konstruierte Marey eine Kamera, in der ein mit einer lichtempfindlichen Schicht überzogenes Papierband am Verschluss vorbei transportieren wurde. Da die Aufnahmen unscharf werden, wenn das Band am geöffneten Verschluss vorbei bewegt würde, entwickelte Marey ein Verrichtung, bei der der Transport des Bandes durch einen Elektromagneten während der Belichtung für 1/5000 Sekunde angehalten wurde. Eder_1886_S_188_Momentphotographie
So erhielt er Bilder mit der wünschenswerten Schärfe. Da Längenangaben kontinuierlich mitaufgezeichnet wurden, ermöglichte die zeitliche Taktung der Belichtung eine genaue Analayse der Bewegungen von Menschen und Tieren. [Marey 1888]
Mareys wissenschaftliche Untersuchungen von Bewegungsabläufen zielten auf konkrete, anwendungsbezogene Ergebnisse. So war das Kriegsministerium nach der Niederlage im deutsch-französischen Krieg daran interessiert, die Marschleistungen der französischen Soldaten zu optimieren. Auch das Interesse an Bewegungsabläufen bei Pferden beschränkte sich zu einer Zeit, in der man beim Militär noch auf Pferde als Zug- und Reittiere angewiesen war, nicht auf kalifornische Millionäre, Rennstallbesitzer und Künstler [Marey 1894, S. 805].

[1] Seit den 1870er Jahren stand mit der Erfindung der Bromsilber-Gelatine-Trockenplatten ein Fotomaterial zur Verfügung, das nicht nur leichter zu handhaben, sondern außerdem die erforderliche Empfindlichkeit für extrem kurze Belichtungszeiten mitbrachte.
[2] In mechanischen Uhrwerken bewirkt der Gangregler über das in das Hemmungsrad eingreifende Hemmstück das periodische Anhalten („Hemmen“) des Räderwerks und damit den regelmäßigen Gang der Uhr.
[3]Im Original: „Avec cette méthode [la chronophotographie sur plaque fixe], il est vrai, les images d l’homme ou de l’animal en movement se réduisent à quelques points brillants et à quelques lignes. Mais cela suffit, en general, pour caractériser l’action des members aux diverses allures.” (Marey 1894, S. 807)

Abbildungen
Photographische Flinte – Eder [1886], S. 153

Versuchsperson in schwarzem Anzug mit weißen Streifen auf Armen und Beinen für chronophotografische Bewegungsanalysen – Marey, Étienne-Jules [1893], Die Chronophotographie, Berlin: Mayer & Müller, S. 11
Partielle Momentaufnahme eines laufenden Mannes mit gläzenden Bändern: Eder [1886], S. 188

Literatur
Brockhaus Enzyklopädie [1988]: in 24 Bd. – 19., völlig neu bearbeitete Auflage Bd. 7, Mannheim: Brockhaus
Eder, Josef Maria [1886]: Die Moment-Photographie in ihrer Anwendung auf Kunst und Wissenschaft, Halle a. Saale: Wilhelm Knapp
Marey, Étienne [1888]: Décomposition des phases d’un mouvement au moyen d’images photographiques successives, recueillies sur une bande de papier sensible qui se déroule – Extrait des Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des Sciences, t. CVII; séance du 29 octobre 1888: http://www2.biusante.parisdescartes.fr/livanc/?do=page&cote=extcdf005&p=138 [Stand: 04.01.2014]
― [1894]: La station physiologique de Paris (1), in: La nature : revue des sciences et de leurs applications aux arts et à l’industrie, Jg. XXXI, S. 802

Vgl. dazu: Wagner; Wolf-Rüdiger : Étienne-Jules Marey ein Wissenschaftler, der nebenbei zum Filmpionier wurde. In: Hischer, Horst [2016]: Mathematik — Medien — Bildung. Medialitätsbewusstsein als Bildungsziel. Wiesbaden: Springer Spectrum, S. 85 ff.

 

 

Die Entdeckung von Planeten durch das „geistige Auge“ der Mathematik

1846 – 2016

Wie das Fernrohr, ein sinnliches näherndes, raumdurchdringendes Hülfsmittel, hat die Mathematik durch Ideenverknüpfung in jene fernen Himmelsregionen geführt, von einem Theil derselben sicheren Besitz genommen; ja bei Anwendung aller Elemente, die der Standpunkt der heutigen Astronomie gestattet, hat in unseren für Erweiterung des Wissens glücklichen Tagen das geistige Auge einen Weltkörper gesehen, ihm seinen Himmelsort, seine Bahn und seine Masse angewiesen, ehe noch ein Fernrohr auf ihn gerichtet war!  (Alexander von Humboldt 1847)

1846 – Entdeckung des Planeten Neptun
Humboldt bezieht sich auf die Entdeckung des Planeten Neptun. Seit dem Anfang des 17. Tycho Brahes MauerquadrantJahrhunderts wusste man, dass sich die Planeten auf elliptischen Bahnen bewegen, in deren einem gemeinsamen Brennpunkt die Sonne steht. Kepler hatte dieses nach ihm benannte Erste Keplersche Gesetz aus den Tabellen abgeleitet, in denen der dänische Astronom Tycho Brahe und später Kepler selbst die Daten aus langjährigen Beobachtungen und Messungen der Umlaufbahnen der Planeten, insbesondere des Planeten Mars, festgehalten hatten.
Newton hatte mit der Gravitationskraft, die von der Sonne auf alle Planeten in unserem Sonnensystem ausgeübt wird, die Erklärung dafür geliefert, warum die Planeten in ihrer Umlaufbahn gehalten werden und warum es durch die Gravitationswechselwirkung zwischen den Planeten zu Abweichungen von den idealen elliptischen Umlaufbahnen kommt.
Aufgrund solcher Abweichungen von den vorausberechneten Bahnen der Planeten Jupiter,

Sternwarte zu Berlin 1840
1840

Saturn und Uranus waren Astronomen schon länger von der Existenz eines noch unbekannten Planeten ausgegangen. Der französische Mathematiker und Astronom Urbain Le Verrier berechnete 1846 die Position, auf der sich dieser unbekannte Planet befinden musste. Diese Berechnungen schickte er an die Königliche Sternwarte in Berlin, die durch die Initiative von Alexander von Humboldt über eines der leistungsstärksten Teleskope in der damaligen Zeit verfügte. Als die Berliner Astronomen ihr Teleskop auf die von Le Verrier berechnete Position richteten und das sich ihnen bietende Bild mit einer aktuellen Sternenkarte verglichen, gelang es ihnen sofort, den bis dahin unbekannten Planeten zu identifizieren und damit den Beweis für Le Verriers Berechnungen zu führen.

2016 – Planetenentdeckung per Computersimulation
„Zwei US-Astronomen haben nach eigenen Angaben Hinweise auf die Existenz eines neunten Planeten in unserem Sonnensystem entdeckt. Der Himmelskörper sei etwa zehnmal so schwer wie die Erde, […]. Gesehen haben die beiden Wissenschaftler den möglichen neuen Planeten aber noch nicht. […] Die Hinweise beruhen bislang aber ausschließlich auf mathematischen Modellen und Computersimulationen.“ (faz.net – 21.01.2016)

 

1872 – Die Postkarte aus volkswirtschaftlicher Sicht

„[…], so können wir wohl kühn behaupten, daß der Briefverkehr viel  entschiedener, als der Seifenconsum, wie Liebig, oder als der Eisenkonsum, wie Mischler meinten, der Gradmesser der Bildung und wirthschaftlichen Entwicklung sei. Aber er ist nicht nur der Ausfluß der Bildung und wirthschaftlichen Entwicklung, er ist auch einer der thätigsten Begründer. Daher fördert Alles, was den Briefverkehr erleichtert, auch die Bildung und die wirthschaftliche Wohlfahrt in nicht hoch genug zu schätzender Weise.“ (Herrmann 1872, S. 74f.)

Die Postkarte wurde 1869 in Österreich-Ungarn eingeführt. Preußen und die anderen deutsche Staaten folgten 1870. Zur Einführung der Postkarte in Österreich-Ungarn trugen entscheidend die publizistischen Aktivitäten von Emanuel Herrmann, Professor für Nationalökonomie und Enzyklopädie an der Militärakademie in Wiener Neustadt, bei. Er selbst betrachtete sich dabei nicht als alleiniger Erfinder“ der Postkarte, sondern verwies darauf, dass der königlichen preußische Delegierte Heinrich Stephan „ein solches Projekt“ schon 1865 auf der Postkonferenz in Karlsruhe vorgestellt hatte. (Herrmann 1872, S. 87)
Die Einführung der Postkarten kam einem Streben nach Rationalisierung und Modernität entgegen. So wirbt Hermann im Januar 1869 im Abendblatt der Neuen Freien Presse mit volkswirtschaftlichen Argumenten für diese „neue Art der Correspondenz mittelst der Post“. Herrmann_Berechnung_Briefkosten S_75

„Wohl wenige berechnen, wie hoch eigentlich dem Einzelnen die Kosten des Briefeschreibens kommen. Man möge uns nicht der Kleinlichkeit zeihen, wenn wir hier einen Überschlag über die Kosten von hundert Briefen geben, welche ein Gebildeter oder ein Geschäftsmann gewiß jährlich schreibt.“ (Herrmann 1872, S. 75)

In seinen Berechnungen geht Herrmann davon aus, dass sich die Kosten für die hundert Millionen Briefe, die während eines Jahres in Österreich geschrieben wurden, auf nahezu zwanzig Millionen Gulden belaufen. Ein Drittel dieser Briefe entfalle auf Benachrichtigungen, deren Inhalt „selten etwas Anderes als die gewöhnlichsten Notizen oder Gratulationen u.s.w. enthält“. Für diese einfachen Benachrichtungen sei weder ein Briefumschlag noch ein Siegel erforderlich. Hier könne man mit der Postkarte eine „Art Posttelegramm“ schaffen und so einen erheblichen Teil der Kosten einsparen, ohne den Briefverkehr zu beeinträchtigen.

„Wie groß wäre aber die Ersparniß an Briefpapier, Couverten, Schreib- und Lese-Arbeit, wie groß wäre die Zeitersparniß bei einer solchen Einrichtung! […] Dies alles bliebe weg, man könnte sich, wie man ja schon lange bei dem Telegramme zu thun gewohnt ist, auf die unumgänglich nothwendigen Ausdücke beschränken. Wir besäßen in Bälde eine eigene Telegramm-Briefsprache, […]! (Herrmann 1872, S. 76)

Ähnliche Überlegungen finden sich bereits in der Denkschrift Heinrich Stephans, die dieser 1865 der Postkonferenz in Karlsruhe vorgelegt hatte.

 

Weitläufigkeiten treffen den Absender, wie den Empfänger. In unseren Tagen hat das Telegramm bereits eine Gattung von Kurzbriefen geschaffen. Die jetzige Briefform gewährt für eine erhebliche Anzahl von Mittheilungen nicht die genügende Einfachheit und Kürze. Die Einfachheit nicht, weil Auswahl und Falten des Briefbogens, Anwendung des Couverts, des Verschlusses, Aufkleben der Marke u.s.w. Umständlichkeiten verursachen; und die Kürze nicht, weil, wenn einmal ein förmlicher Brief geschrieben wird, die Convenienz erheischt, sich nicht auf die nackte Mittheilung zu beschränken. Die Weitläufigkeiten treffen den Absender, wie den Empfänger. In unseren Tagen hat das Telegramm bereits eine Gattung von Kurzbriefen geschaffen. Nicht selten telegraphirt man, um die Umständlichkeit des Schreibens und Anfertigens eines Briefes zu ersparen. Auch die Uebersendung einer Visitenkarte u.s.w. ersetzt für verschiedenen Gelegenheiten einen förmlichen. Brief.“ (Heinrich Stephan 1865 – zitiert nach Herrmann 1872, S. 83)

Correspondenz-Karte_Österreich  1.10.1869

Bei der Einführung der Postkarte musste eine Reihe von Entscheidungen getroffen werden. Leitender Gesichtspunkt war dabei, „die Manipulation der Postbeamten hinsichtlich der Postkarten so einfach und gleichmäßig als möglich zu machen“. (Herrmann 1872, S. 79) Die gesamte Gestaltung der Postkarte erfolgte unter diesem Gesichtspunkt. Dazu zählten die Wahl eines „möglichst kleinen und für den Postbeamten handsamen Formats“, die Vorgabe von Feldern für die Angaben über Empfänger und Absender sowie ein fester Platz für das eingedruckte Postwertzeichen, um das Abstempeln zu erleichtern. Da dies zu einem unüberschaubaren Arbeitsaufwand geführt hätte, verzichtete man von vornherein darauf – in Anlehnung an das Telegramm – das Porto nach Umfang der Mitteilung zu staffeln bzw. die Länge der Mitteilung zu begrenzen.

Würde man dem correspondirenden Publicum überlassen, die Größe, Stärke, Farbe, Zusammenlegung und Adressierung der Postkarte zu bestimmen, so würde der inviduelle Geschmack und die zufällige Lage jedes Einzelnen gar bald eine solche Mannigfaltigkeit von Formaten, Stärken und Faltearten, von Aufschriften und Nenutzungsweisen erzeugen, daß die Manipulation im Postdienste dadurch erschwert würde.“ (Herrmann 1872, S. 79)

Die Postkarte mit ihrer ungewohnten Form der „offenen Mitteilung“ stieß anfangs durchaus auf Vorbehalte. In einer Anmerkung auf der Rückseite der Postkarte lehnte die Post jegliche Verantwortung für den Inhalt der Mitteilung ab, da man sich bewusst war, dass eine durchgehende Kontrolle der Inhalte nicht möglich sein würde.

„Schließlich sei hier noch mit wenigen erläuternden Worten jener Bestimmung der obigen Verordnung gedacht, wonach die Karten dann von der Beförderung auszuschließen sind, wenn wahrgenommen wird, daß hiermit Unanständigkeiten, Ehrenbeleidungen oder sonst strafbare Handlungen beabsichtigt werden. Diese Bestimmung ist ein nothwendiges Correktiv für jene Fälle, wo die Karten zu injuriösen oder unsittlichen Mittheilungen mißbraucht werden wollen, die eben, weil sie offen durch die Hände der Postbediensteten laufen, für den Adressaten sehr verletzend sind und häufig zu Collisionen mit den bestellenden Individuen Anlaß geben würden.“ (Herrmann S. 88 f.)

Literatur
Herrmann, Emanuel: Drittes Bild. Die Correspondenz-Karte, in: ders.: Miniaturbilder aus dem Gebiete der Wirthschaft, Verlag von Louis Nebert: Halle a. S. 1872, S. 74 – 133

Medien verändern unsere Wahrnehmung

„Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.“ (Walter Benjamin 1974, S. 17) Wahrnehmungsweisen verändern sich. Diese Veränderungen sind schwer nachzuvollziehen, da es sich um langsame und subtile Prozesse handelt und weil uns unsere eigenen Wahrnehmungsformen so selbstverständlich und natürlich erscheinen, dass sie uns normalerweise gar nicht bewusst und schon gar nicht zum Problem werden. 1985 konnte die Firma Kodak mit dem Slogan werben „KODAK Filme sehen Filme sehen den Knall Spiegel 1985den Knall besser als den Mensch“. Auf dem dazu gehörenden Foto ist ein Luftballon in dem Moment zu sehen, in dem er zerplatzt.

Lumière
Direkte Reproduktion einer Momentaufnahme der Herren Lumière mit Hilfe der Heliogravüre (Verfahren nach Charles G. Petit- Autotypie). – Belichtungszeit 1/300 Sekunde.

1886 veröffentlichte die populärwissenschaftliche Wochenzeitschrift La Nature einen Artikel zum Thema „Momentfotografie“. Gegenstand des Artikels sind die interessanten Ergebnisse, die mit der Momentfotografie in allen Bereichen der Wissenschaften und Künste erzielt werden. Konkreter Anlass ist ein Foto der „Herren Lumière aus Lyon“, die damit die Leistungsfähigkeit der von Louis Lumière entwickelten Bromsilber-Gelatine-Trockenplatten demonstrieren, deren hohe Lichtempfindlichket sehr kurze Belichtungszeit ermöglichen.* (Durch den Hinweis auf  die „Heliogravüre“ wird unterstrichen, dass ein fotografisches Reprodukionsverfahren eingesetzt wurde, durch das eine originalgetreue Kopie der Vorlage garantiert wird.)

Neben den Wissenschaftlern seien es nicht zuletzt die Künstler, die Bewegungsabläufe erkennen, von denen sie nie eine Vorstellung haben konnten, weil sie sich unsere Wahrnehmung entziehen. „Es ist möglich, dass die Momentaufnahmen unsere Augen mit der Zeit mit Darstellungen vertraut machen wird, an die wir bisher nicht gewöhnt waren, und unsere Wahrnehmung verändern wird.“ (La Nature 1886, S. 46)

Wie schwierig es war, sich an diese neuen Sichtweisen zu gewöhnen, zeigt sich auch daran, dass Wissenschaftler wie Marey den Nachweis für die Korrektheit ihrer Bwegungsstudien auf das Medium „Phenakistiskop“ angewiesen. Erst die Präsentation der Einzelbilder in der richtigen Reihenfolge und mit der richtigen Geschwindigkeit mit mindestens 10 bis 12 Bildern pro Sekunde erbrachte den Beweis für die wissenschaftliche Relevanz der Chronophotographie.

„In neuerer Zeit hat Muybridge sich damit beschäftigt, eine Reihe von Aufnahmen trabender und galoppirender Pferde zu machen, welche die einzelnen auf einander folgenden Phasen der Körperbewegung des in eiligem Laufe befindlichen Pferdes in ebenso vielen Einzelbildern festhalten. Da kamen nun, namentlich unter den Bildern des galoppirenden Pferdes, die unglaublichsten Positionen vor, unter Anderem eine, bei welcher das Pferd mit gegen den Bauch geschlagenen Vorder- und Hinterbeinen frei in der Luft schwebt. Man hat diese Bilder, welche sich auch auf der Pariser Weltausstellung befanden, vielfach angezweifelt, allein andererseits hat man den Beweis, daß diese unmöglich erscheinenden Stellungen wirklich den galoppirenden Pferden eigenthümlich sind, dadurch geführt, daß man die Einzelbilder in der richtigen Reihenfolge in einem sogenannten Zootrop verband, einer drehenden Trommel, deren Wandung so viele Gucklöcher enthält, wie Einzelbilder einer zusammengesetzten Bewegung die innere Wand auskleiden. In diesem Apparat, den man mit den verkleinerten Copien der Muybridge’schen Pferdebilder von der Expedition der Pariser Wochenschrift ‚L’Illustration’ beziehen kann, setzt sich der natürlichste Trab oder Galopp eines Pferdes wieder aus den Einzelbildern zusammen.“ (Aus: Die Gartenlaube 1879 Nr. 25, S. 428)

* Von diesen Fotoplatten unter dem Namen „Etiquette bleue“ produzierten die Fabriken der Familie Lumière bis zu 15 Millionen Stück pro Jahr – und schafften damit die Grundlage für das Vermögen der Familie Lumière.

1886 – Velocipedes und Photographie

In der neuesten Zeit bedienen sich zahlreiche englische Amateure und Touristen dreirädriger Velocipedes für photographische Excursionen; die Touren sollen dadurch unendlich erleichtert werden, und gegenwärtig werden zahlreiche diesbezügliche Velocipedes-Constructionen auf den Markt gebracht. Photo-Tricycle_Eder Die Moment Photographie 1886 S. 76

Der Gebrauch des Velocipedes ist besonders in England ein allgemeiner geworden und das Tricycle ist gegenwärtig ein Gegenstand des Vergnügens und der practischen Verwendung. Die Vervollkommnung und neue Verwendung desselben als ‚Photo-Tricycle‘ dient wohl mehr zum Vergnügen; jedoch wird sich wohl auch eine nützliche Seite abgewinnen alssen. Man muss dieser Verbindung von Photographie und rascher Reisegelegenheit eine geeignete Form geben und hierzu liegen mehrfache Versuche vor. […] Diese Neuerung ist in Amerika und England schon in Gebrauch und wird sich auch anderwärts bei den Liebhabern des Tricycle-Sports Eingang verschaffen, denn die Beschreibung derselben, wie der Cylist durch Wald und Flur eilt und die Schönheiten der Natur im Fluge geniesst und bei besonders anziehenden Gegenden Halt macht und das Bild ohne Mühe aufnimmt und Albums der durchfahrenen Strecken zur Erinnerung sammelt, klingen in der That verlockend. (Eder 1886, S. 75 – 77)

Abb. Photo-Tricycle von Rudge und Co, In: Eder 1886, S. 76

Literatur
Eder, Josef Maria [1886]: Die Moment-Photographie in ihrer Anwendung auf Kunst und Wissenschaft, Halle a. Saale: Wilhelm Knapp

Gesichtserkennung – Gestern – Heute – Morgen

Süddeutsche Zeitung vom 19.08.2014 – Grenzbeamte an Flughäfen können gefälschte Passfotos oft nicht erkennen.
Der Vergleich fremder Gesichter mit Fotos fällt ihnen ähnlich schwer wie Ungeübten, berichten australische und britische Psychologen im Fachmagazin Plos One. […] Vertraute Gesichter können Menschen zwar sehr gut vergleichen. Das exakte Vergleichen fremder Gesichter kann dagegen nicht antrainiert werden, vermuten die Forscher. Dafür könnte eine spezielle Begabung notwendig sein. […] (Wenleder 2014)


1895 – Über den geringen Nutzen der Fotografie zur Erkennung von Verbrechern
Gedächtnisbild_Bertillonage
„Wenn eine Klage der Polizeiämter berechtigt ist, so ist es diejenige über den geringen Nutzen der Photographie zur Erreichung eines flüchtigen Uebelthäters. – So vorzüglich sie sich bewährt hat, sagt man, um eine vermutete gegenwärtige Persönlichkeit festzustellen, so unzulänglich erweist sie sich als Ausforschungsmittel und es kann dem gewiegtesten Detektiv täglich begegnen, dass er an einem Menschen, dessen Bild er in der Tasche trägt, vorbeigeht, ohne ihn zu erkennen. Nun liegt sicher ein wenig Widerspruch darin, wenn man einerseits solche Misserfolge einer Unzulänglichkeit der Photographie zuschreibt und sie andererseits doch als ein Wiedererkennungsmittel von bedeutender Wirksamkeit anerkennt. Wir behaupten und glauben es bewiesen zu haben, dass das photographische Bild nach beiden Richtungen allen Anforderungen entsprechen und bedeutendere Dienste leisten würde, wenn die Fahndungsbeamten mit ihrem Gebrauche vertrauter wären, um ein Bild zu zerlegen, zu beschreiben, förmlich auswendig zu lernen; denn man muss, um das richtig anzuschauen, was man erblickt, schon im voraus wissen, welche Punkte man ansehen soll.“ (Bertillon 1895, S. XII)

Das Porträt parlé
„Wir können nur das wieder vor unser geistiges Auge rufen, was wir beschreiben können.“ (Bertillon 1895, S. XIII)Ohrenform_Bertillonage

Die Fotografie wurde in der Bertillonage durch das „Porträt parlé“ oder „Gedächtnisbild“ ergänzt, die es möglich macht, das Bild „förmlich auswendig zu lernen“. Mit Hilfe von „Deskriptoren“, also genauen Vorgaben für die Beschreibung von Nasen-, Ohrenformen usw. wurden die auf eine Karteikarte aufgeklebten Aufnahmen um ein „Porträt parlé“ erweitert.
Nach Forderung Bertillons Vorstellung sollten sich die Detektive, das Fahndungsbild selbst aktiv erschließen.
„[…] dass das beste und sogar einzige Mittel für den Detektiv, ein photographisches Bild gut dem Gedächtnis einzuprägen, darin besteht, sich eine genaue und vollständige Beschreibung desselben schriftlich anzufertigen […]. Der Fahndungsbeamte, der mit der schwierigen Aufgabe betraut ist, an der Hand einer Photographie einen Verbrecher auszuforschen und anzuhalten, muss im stande sein, die Züge und die Gestalt des Verfolgten aus dem Kopfe zu beschreiben, daraus mit einem Wort eine Art ‚Gedächtnisbild’ zu machen.“ (ebd. S. XIII)

USAToday 12.o2.2014

Google Glass

Die Erkennungsarbeit soll Streifenpolizisten durch Systeme wie Google Glass abgenommen werden, da sich mit Hilfe entsprechender Apps Gesichter automatisch mit denen aus einer Datenbank vergleichen lassen.

Literatur
Bertillon 1895: Das anthropometrische Signalement, 2. vermehrte Auflage mit einem Album, autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. v. Sury, Professor der gerichtlichen Medizin an der Universität Basel, Leipzig
Wagner: Wolf-Rüdiger 2013: Bildungsziel Medialitätsbewusstsein, München, S. 185 – 203
Wenleder, Andreas 2014: Gesichter lesen. In: Süddeutschen Zeitung – Wissen 19.08.2014

Abb. „Gedächtnisbild“ und „Ohrläppchen“ aus Bertillon a.a.O.

1863 – Der elektrische Telegraph im Kriege

 „Die Industrie hat hier der Kriegskunst unter die Arme gegriffen.“ – Vom Kriegstheater zum Kriegsschauplatz

Seit den Revolutionskriegen sind die modernen Armeen zu kollossalen Massen herangewachsen; es ist nichts Ungewöhnliches mehr, dass 150,000 – 200,000 Mann am Tage einer Schlacht gemeinschaftlich in Aktion treten. Außerdem sind bei der Tragweite der Geschosse die gegenüberstehenden Truppen meist in großer Entfernung von einander zu bleiben und eine sehr ausgedehnte Schlachtlinie zu bilden genöthigt. Diese Umstände machen die Funktion des obersten Kommandierenden weit schwieriger, denn er kann nicht mehr mit einem Blick das Ensemble der Operationen und die Bewegungen jedes Truppentheils überschauen. Mündlichen Befehl an die äußersten Punkte der Feuerlinie zu überbringen erheischte oft Stunden, während welcher die Umstände sich vollständig berändern können, so daß zuletzt jeder Kommandant für sich eine Schlacht lieferte. Die Industrie hat hier der Kriegskunst unter die Arme gegriffen. Es wurden nämlich im Lager von Chalon Versuche mit dem elektrischen Telegraphen gemacht. Im Hauptquartier wurde ein Zentralbureau errichtet; durch Fourgon’s wurden darauf Drähte nach verschiedenen Punkten geführt, so daß der Oberkommandant mit seinen Unterkommandierenden korrespondieren konnte. Die Drähte, welche mit einem isolierenden Stoffe umgeben waren, liegen einfach auf dem Boden; die Versuche haben die Sache als praktisch erwiesen. Man kann sogar mit der Nadel Zeichnungen machen, welche die Befehle ergänzen. Diese Anwendung des elektrischen Telegraphen muß notwendigerweise zur Vermehrung der Zerstörungsmittel beitragen, welche die europäischen Nationen seit einiger Zeit so lebhaft beschäftigen und die Taktik vollständig umschaffen.

Kriegstheater_Kriegsschauplatz_web

Aus: Ueber Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung, Nr.1/1863, Text: S. 14, Abb. S. 12

1900 – Die multisensorische Illusion einer Schiffsreise

Das Maréorama

Weltausstellung 1900 in Paris. Im Unterhaltungsangebot finden sich viele Panoramen. In den klassischen Panoramagebäuden konnten die Besucher den 360-Grad-Rundblick auf berühmte Stadtansichten und Landschaften von einer Aussichtsplattform aus genießen.

Es gäbe zahlreiche „Panoramen“ auf dem Gelände der Weltausstellung, aber nicht alle seien gleich interessant, liest man in der Ausgabe der populärwissenschaftliche Zeitschrift „La Nature“ vom Juni 1900. Vorgestellt werden in der Zeitschrift „moving panoramas“. Das Neue und Interessante an diesen Medien sei, dass den Besuchern dabei der Eindruck vermittelt werde, er bewege sich durch die Szenerie oder Landschaft (La Nature 1990, S. 402 ff.). Die Landschaft „ziehe“ an den Besuchern vorbei, so wie sie Reisende aus einem Zugabteil heraus, vom Deck eines Kreuzfahrtschiffes oder aus dem Korb eines Heißluftballons erlebten.

Le Maréorama_La Nature 1900_ S. 68Unter diesen „moving panoramas“ verdiente nach der Zeitschrift „La Nature“ das „Maréorama“ besondere Aufmerksamkeit. Bei „moving panoramas“ bewegte sich bisher die Leinwand und der Zuschauer hatte den Eindruck, dass er sich bewegte, aber er spürte, dass sein Körper an der Bewegung nicht beteiligt war. Die Illusion war ganz und gar nicht perfekt. (La Nature 1900/2 S. 67) Das Maréoramar versprach dagegen ein multisensorische Erlebnis. Auf dem Deck eines Dampfers erlebte der Besucher eine Kreuzfahrt von Marseille nach Konstantinopel. Eine Vorrichtung sorgt für das Rollen und Stampfen des Decks. Rauchende Schornsteine und Dampfsirenen erhöhten die Illusion, während See- und Landszenen am Zuschauer vorüberzogen. Der Zuschauer erlebte Sonnenaufgänge, Nacht auf dem Mittelmeer und mit zuckenden Blitze und krachenden Donnerschlägen heraufziehende Unwetter. „Von Bord“ konnten Ansichtskarten mit Motiven der „Kreuzfahrt“ verschickt werden.

Im Verlauf der Reise wurde das Schaukeln des Schiffes stärker. Man hörte die Geräusche der Schiffschraube und der Dampfsirenen. Sogar Teergeruch lag in der Luft. Um die Illusion zu erhöhen eilten Besatzungsmitglieder über das Deck, um seekranken Passagieren zu helfen.Le Maréorama_La Nature 1900_ S. 69

Während der „Kreuzfahrt“ zogen an Back- und Steuerbord zwei Leinwände mit einer Länge von 750 Metern und einer Höhe von 13 Metern an den Zuschauern vorbei. Komplizierter Mechanismen waren erforderlich, damit die 10.000 Quadratmeter Leinwand auf beiden Seiten gleichmäßig und störungsfrei auf- und abgewickelt wurden. Nicht weniger aufwendiger war die Kardanaufhängung des „Schiffsdecks“, um die gegenläufigen Bewegungen des Rollens und Stampfens zu simulieren.

Quellen
La Nature. Revue des sciences et de leurs applications aux arts et à l’industrie: Les panoramas à l‘exposition II. Le maréorama, 1900/2 S. 67 – 69
Huhtamo, Erkki: Illusions in Motion. Media Aechaeology of the Moving Panorama and Related Spectacles, MIT 2013, S. 309 – 329
Abb.1 u. 2  La Nature. Revue des sciences et de leurs applications aux arts et à l’industrie, 1900/2 S. 68

 

Highttech und populäre Musik im 19. Jahrhundert

Ein Beitrag zur Archäologie der Medienkultur

Die Gartenlaube H_25_1898

Leierkasten als Volkserzieher
Dem aufmerksamen Beobachter wird, wohl in allen Theilen unseres großen deutschen Vaterlandes in gleicher Weise, eine eigenthümliche Erscheinung auffallen. Wir meinen das gleichsam epidemische Auftreten eines volksthümlichen Lieblingsliedes aller Welt. Dasselbe verbreitet sich, meistens von einer großen Stadt ausgehend, strahlenförmig über ganze Provinzen, ja Länder, bis in die entlegensten Dörfer und Flecken derselben, wird von Alt und Jung in rastlosem Eifer gesungen und verschwindet dann wieder – um von einem neuen verdrängt zu werden. […]
[…] der Leierkasten muß dem niedrigsten Volksschichten gegenüber in aller Wahrheit als ein Lehrer, ein Erzieher betrachtet werden. Aus seinen politischen Liedern entnimmt der Bube seine ersten Begriffe und Anschauungen von der Welt: er zieht im Geiste mit hinaus nach Schleswig-Holstein und ruft mit seinen Beinchen auftrampelnd: „Up ewig ungedeelt!“ An den Liebesliedern des Leierkastens entflammen sich die ersten heißen und süßen Gefühle im Herzen des jugendlichen Dienstmädchens und willig wird auch der so sauer erworbene Groschen noch für die „fünf neuen Lieder“ dahingegeben, um die liebliche Worte sorgfältig nachstudieren zu können.
Leider ist aber der Leierkasten in neuerer Zeit vollständig in die Fußstapfen des Volkstheaters getreten, hat sich fast ausschließlich der Posse zugewandt und ist daher, fast überall, ebenso wie die Bühne, im Stadium des „höheren Blödsinns“ angelangt. […]
An die Humanität und Einsicht aller wahren Volksfreunde appellirend, mache ich auf diesen argen Mißstand nicht blos aufmerksam, sondern füge auch eine dringende Mahnung hinzu. Meines Erachtens ließe sich nämlich unendlich Segensreiches stiften, wenn in jeder Stadt wohlmeinende und befähigte Männer zusammentreten und Vereine gründen möchten, welche sich die Aufgabe stellen: die volkserziehenden Leierkasten, in billigster Weise, immer mit guten und volksthümlich gedichteten Lieder, namentlich nationalen und patriotischen Inhalts zu versehen. Sehr schwierig könnte dies Ziel wahrlich nicht zu erreichen sein – und welch reicher Segen würde daraus erblühen! […]

Gartenlaube Nr. 42/1865, S. 672

Der Leierkasten – ein Phänomen der Medienlandschaft des 19. Jahrhunderts
Bilder von Kriegsinvaliden, die in Berliner Hinterhöfen die Kurbel ihres Leierkastens drehen, lassen leicht übersehen, dass es sich bei der Verbreitung von populären Liedern mit dem Leierkasten bzw. der Drehorgel um ein typisches Phänomen der Medienlandschaft im 19. Jahrhundert handelt. Nicht nur Gassenhauer und Opern- und Operettenmelodien wurden auf diesem Weg schnell verbreitet, sondern das mobilisierende Potenzial der Musik wurde auch für politische Zwecke eingesetzt. Bei diesen mechanische Musikautomaten handelte es sich komplexe Instrumente, die in spezialisierten Werkstätten hergestellt wurden.

Der Leierkasten als „programmiertes“ Musikinstrument
Stiftwalze„Im Gegensatz zu einer manuell spielbaren Orgel mit einer Klaviatur wird die Ansteuerung der Töne durch einen Programmträger übernommen, der sich in der Spieleinrichtung befindet. Die älteste Form des Programmträgers ist die Stiftwalze. Diese ist seit dem Altertum bekannt. Anfang des 20. Jahrhunderts hat das Lochband bzw. der Lochkarton die Stiftwalze abgelöst. Eine Stiftwalze (meist auswechselbar) kann bis zu zwölf Musikstücke, verbreitet sind sechs bis acht Musikstücke, enthalten. Die Lauflänge des Musikstückes ist durch den Walzenumfang begrenzt. Durch austauschbare Lochbänder oder Lochkartons ist die Spieldauer und die Zahl der spielbaren Lieder fast unbegrenzt.“ (SWR Fernsehen)
Ihr Erwerb war mit so hohen Kosten verbunden, dass Drehorgeln zum Teil gewerblich verpachtet und verliehen wurden. Die Stiftwalzen mit den jeweils aktuellen Liedern mussten erworben werden. Der Verkauf von Flugschriften mit den Liedtexten bildete eine der Einnahmequellen der Drehorgelspieler (Vgl. Grosch 2014, S. 106f.)

Literatur
Grosch, Nils 2014: Die Drehorgel und die Eroberung des öffentlichen Raums durch populäre Musik im 19. Jahrhundert, in: Prügel, Roland (Hrsg.): Geburt der Massenkultur, Nürnberg, S. 106-109