Der Bleistift war in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts für manche Gegner der fortschreitenden Technisierung von Information und Kommunikation zum „Symbol des Widerstands gegen die digitale Kolonisierung unseres Planeten“ geworden. So wurde vor einigen Jahren in den Zeitungen darüber berichtet, dass sich in den USA Gegner der medientechnologischen Entwicklung, die sich nach den englischen Maschinenstürmern des 19. Jahrhunderts auch als „New Luddites“ bezeichnen, zu einem „Lead Pencil Club“ zusammengeschlossen haben. (GRAAF 1996, S. 13)
Schreiben kann zu einem anstrengenden, ritualtreibenden Prozess werden. Der eine brauchte den Geruch faulender Äpfel, der andere kann nur bei geschlossenen Vorhängen schreiben. Zum individuell erforderlichen Schreibambiente kann auch der Bleistift oder ein anderes Schreibwerkzeug gehören (Schreiblust und Bleistift). Ein Loblied auf den Bleistift taugt jedoch wenig zum ideologischen Kampfgesang „gegen die digitale Kolonisierung unseres Planeten“.
Der Bleistift ist alles andere als das Produkt einer technologisch unbefleckten Erfindung. Das Lieblingswerkzeug der Computergegner verdankt seine Entwicklung zur heutigen Form demselben zivilisatorischen Prozess, in dem auch die Voraussetzungen für die Entwicklung und Anwendung des Computers entstanden.
Als Zeichengerät wurde der Bleistift erst voll einsetzbar, als gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein industrielles Verfahren entwickelt wurde, bei dem man mit unterschiedlichen Mischungsverhältnissen von Grafit und Ton sowie verschiedenen Brenntemperaturen arbeitete. Erst dieses Verfahren erlaubte die Herstellung von Bleistiften mit unterschiedlichen Härtegraden, so dass man Striche in unterschiedlicher Schwärze erzielen konnte. Ein heutiger Bleistift ist nicht nur ein Stück Grafit, geschickt in einen Holzkörper eingebettet: Rohstoffe aus den unterschiedlichsten Weltgegenden werden benötigt. Die Beschaffung der Materialien und die Herstellung eines Bleistifts setzen ein hochmodernes, weltumspannendes politisches, wirtschaftliches und technologisches System voraus.
Das Festhalten am Bleistift ist demnach denkbar ungeeignet, als Widerstandshandlung gegen die Technisierung der Kommunikation ausgegeben zu werden. Unbedenklich erscheint dagegen die römische Wachstafel: Der Stilus, der Metallgriffel zum Schreiben, wäre eine Anschaffung fürs Leben. Die Wachstafel selbst lässt sich aus recycelbaren Materialien im Eigenbau herstellen. Die Wachsschicht kann nach Gebrauch immer wieder geglättet werden. Gleichzeitig käme es zu einer drastischen Reduzierung des Outputs an Texten, da ein flüssiges Schreiben beim Ritzen in Wachstafeln nicht möglich ist und – kommunikationsökologisch konsequent – der Rückgriff auf die aus römischer Zeit datierenden Ansätze zur Stenografie untersagt werden sollte.
Quelle
Graaf, Vera: Hassen Sie Ihren Computer! Die neue Maschinenstürmer-Generation Amerikas will den Technik-Verzicht. In: Süddeutsche Zeitung vom 12.06.96, S. 13
Spitzentechnologie: Bleistift und Anspitzer
Hier gibt’s Informationen rund um den Bleistift: