1956 – Das Fernsehen als Gefahr für das Familienleben

1956 – Radio und Bildschirm werden zum negativen Familientisch

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Schon vor Jahrzehnten hatte man beobachten können, daß das soziale Symptommöbel der Familie: der massive, in der Mitte des Zimmers stehende, die Familie um sich versammelnde Wohnzimmertisch seine Gravitationskraft einzubüßen begann, obsolet wurde, bei Neu-Einrichtungen überhaupt schon fortblieb. Nun erst hat er, eben im Fernsehapparat, einen echten Nachfolger gefunden; nun erst ist er durch ein Möbel abgelöst, dessen soziale Symbol- und Überzeugungs­kraft sich mit der des Tisches messen darf; was freilich nicht besagt, daß TV nun zum Zentrum der Familie geworden wäre. Im Gegenteil: was der Apparat abbildet und inkarniert, ist gerade deren Dezentralisierung, deren Exzentrik; er ist der negative Familientisch. Nicht den gemeinsamen Mittel­punkt liefert er, vielmehr ersetzt er diesen durch den gemein­samen Fluchtpunkt der Familie.

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.l, München 1983, S.105 f.

1974 – Die Entwicklung des Wohnzimmers zum Medienterminal

Betrachtet man moderne Wohnungsgrundrisse und versucht man, aus ihnen den Ablauf des Wohnen herauszulesen, so muss man – auch bei gut durchdachten Entwürfen … annehmen, dass das Leben zu Hause im wesentlichen aus unverbindlichem Freizeitkonsum besteht.

So bestechend die Raumkombination mit ihren ineinander fließenden Räumen und Puppenküchen sind, so fragt man sich doch oft, welcher ernsthaften Beschäftigung man in diesen Wohnungen nachgehen kann. Alle Räumlichkeiten, in denen Hausarbeit stattfinden könnte, sind äußerst knapp gehalten, um eine möglichst große Wohnfläche, d.h. Freizeit­konsumfläche zu gewinnen. Der meiste Platz wird gebraucht für einen Raum, von dem man eigentlich keinen anderen Gebrauch machen kann, als in ihm in weichen Sesseln bei Radiomusik zusammen zu sitzen und eine Zeitung zu lesen. Es fehlt dagegen fast stets der Platz, wo gehämmert, wo kon­zentriert gelesen oder musiziert werden kann oder wo man sich mit einer Näharbeit oder einen schriftlichen Arbeit ausbreiten könnte.

Hans Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt, München 1974, S.103

1994 – Tischgespräche funktionieren vor allem als Ritual

Me­dien und deren Botschaften bestimmen das familiäre Braten-Geplauder in weit geringerem Maß als erwartet.
Gerade bei diesem Thema schwang ja bisher St. Spekulatius seinen Bischofs­stab: Die Medien ersetzten die Realität, ihre virtuellen Welten zerstörten die Gefühlsbindungen, das Gedröhne des Fernsehens lasse die Familie verstum­men, entwerte deren Gespräch, lautet das Lamento.
Das nimmt sich nun viel differenzier­ter aus. Zwar beanspruchen Fernsehthemen großen Raum. „Doch“, so Keppler, „der Rekurs auf Medienbeiträge vergrößert die Reichweite der familiä­ren Themen erheblich, ohne jedoch die Struktur der Gespräche signifikant zu verändern.“
Die meisten Fernsehereignisse drin­gen in die familiäre Kommunikation oft nur dadurch ein, daß sie im Gespräch gemeinschaftlich rekonstruiert werden. Eine harte Arbeit, denn beim Fernse­hen kann derjenige, der das Thema ein­bringt („Hosch du des gseha?“) nie si­cher sein, ob und wieviel der andere ge­sehen hat.
So werden längere Erläuterungen nö­tig, in denen es nicht nur um die Wie­dergabe von Inhalten geht, sondern auch um Bewertungen und – wie im Fal­le der Versteckten-Kamera-Sendung „Verstehen Sie Spaß?“ – sogar um eine Reflexion der Entstehungsbedingungen: „Die dürfed des ned oifach.“
Nicht die Medien machen sich das Fa­miliengespräch gefügig. Umgekehrt wird eine nun empirisch belegte (und kaum besorgniserregende) Faustregel daraus: Auf Geschehnisse des Bild­schirms weicht die Familienrede gern aus, wenn der Redefluß zu erlahmen droht – oder wenn die Spannung unter den Gesprächspartnern allzusehr steigt.
Ans Eingemachte des Gesprächsgefüges, so Keppler, geht der Medienkonsum jedenfalls fast niemals. Die […] Familie – zusammengehalten vom formellen, aber festen Band der Redegewohnheiten – ist zäh.

Aus: Der Spiegel Nr.26/1994 S. 111f. (Angela Keppler: „Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien“, Frankfurt am Main 1994)

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