Medien verändern unsere Wahrnehmung

„Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.“ (Walter Benjamin 1974, S. 17) Wahrnehmungsweisen verändern sich. Diese Veränderungen sind schwer nachzuvollziehen, da es sich um langsame und subtile Prozesse handelt und weil uns unsere eigenen Wahrnehmungsformen so selbstverständlich und natürlich erscheinen, dass sie uns normalerweise gar nicht bewusst und schon gar nicht zum Problem werden. 1985 konnte die Firma Kodak mit dem Slogan werben „KODAK Filme sehen Filme sehen den Knall Spiegel 1985den Knall besser als den Mensch“. Auf dem dazu gehörenden Foto ist ein Luftballon in dem Moment zu sehen, in dem er zerplatzt.

Lumière
Direkte Reproduktion einer Momentaufnahme der Herren Lumière mit Hilfe der Heliogravüre (Verfahren nach Charles G. Petit- Autotypie). – Belichtungszeit 1/300 Sekunde.

1886 veröffentlichte die populärwissenschaftliche Wochenzeitschrift La Nature einen Artikel zum Thema „Momentfotografie“. Gegenstand des Artikels sind die interessanten Ergebnisse, die mit der Momentfotografie in allen Bereichen der Wissenschaften und Künste erzielt werden. Konkreter Anlass ist ein Foto der „Herren Lumière aus Lyon“, die damit die Leistungsfähigkeit der von Louis Lumière entwickelten Bromsilber-Gelatine-Trockenplatten demonstrieren, deren hohe Lichtempfindlichket sehr kurze Belichtungszeit ermöglichen.* (Durch den Hinweis auf  die „Heliogravüre“ wird unterstrichen, dass ein fotografisches Reprodukionsverfahren eingesetzt wurde, durch das eine originalgetreue Kopie der Vorlage garantiert wird.)

Neben den Wissenschaftlern seien es nicht zuletzt die Künstler, die Bewegungsabläufe erkennen, von denen sie nie eine Vorstellung haben konnten, weil sie sich unsere Wahrnehmung entziehen. „Es ist möglich, dass die Momentaufnahmen unsere Augen mit der Zeit mit Darstellungen vertraut machen wird, an die wir bisher nicht gewöhnt waren, und unsere Wahrnehmung verändern wird.“ (La Nature 1886, S. 46)

Wie schwierig es war, sich an diese neuen Sichtweisen zu gewöhnen, zeigt sich auch daran, dass Wissenschaftler wie Marey den Nachweis für die Korrektheit ihrer Bwegungsstudien auf das Medium „Phenakistiskop“ angewiesen. Erst die Präsentation der Einzelbilder in der richtigen Reihenfolge und mit der richtigen Geschwindigkeit mit mindestens 10 bis 12 Bildern pro Sekunde erbrachte den Beweis für die wissenschaftliche Relevanz der Chronophotographie.

„In neuerer Zeit hat Muybridge sich damit beschäftigt, eine Reihe von Aufnahmen trabender und galoppirender Pferde zu machen, welche die einzelnen auf einander folgenden Phasen der Körperbewegung des in eiligem Laufe befindlichen Pferdes in ebenso vielen Einzelbildern festhalten. Da kamen nun, namentlich unter den Bildern des galoppirenden Pferdes, die unglaublichsten Positionen vor, unter Anderem eine, bei welcher das Pferd mit gegen den Bauch geschlagenen Vorder- und Hinterbeinen frei in der Luft schwebt. Man hat diese Bilder, welche sich auch auf der Pariser Weltausstellung befanden, vielfach angezweifelt, allein andererseits hat man den Beweis, daß diese unmöglich erscheinenden Stellungen wirklich den galoppirenden Pferden eigenthümlich sind, dadurch geführt, daß man die Einzelbilder in der richtigen Reihenfolge in einem sogenannten Zootrop verband, einer drehenden Trommel, deren Wandung so viele Gucklöcher enthält, wie Einzelbilder einer zusammengesetzten Bewegung die innere Wand auskleiden. In diesem Apparat, den man mit den verkleinerten Copien der Muybridge’schen Pferdebilder von der Expedition der Pariser Wochenschrift ‚L’Illustration’ beziehen kann, setzt sich der natürlichste Trab oder Galopp eines Pferdes wieder aus den Einzelbildern zusammen.“ (Aus: Die Gartenlaube 1879 Nr. 25, S. 428)

* Von diesen Fotoplatten unter dem Namen „Etiquette bleue“ produzierten die Fabriken der Familie Lumière bis zu 15 Millionen Stück pro Jahr – und schafften damit die Grundlage für das Vermögen der Familie Lumière.

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