Die Lehrer von heute – Comic-Leser von damals? (1955)

Schule und Lehrer beschäftigen sich immer wieder neu mit dem Einfluss der Medien auf Kinder und Jungendliche. Das ist nahe liegend, spricht aber auch für Professionalität und Verantwortungsbewusstsein.

Bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, zu einem Zeitpunkt, an dem viele der heute noch aktiven Lehrer selbst zur Schule gingen, lösten die Entwicklungen im Medienbereich eine heftige „Schmutz- und Schundkampagne“ aus. Dass man mit Recht von einer „heftigen Kampagne“ sprechen kann, zeigt sich schon alleine daran, dass es – noch keine zehn Jahre nach Ende des Dritten Reichs – zu öffentlichen Verbrennungsaktionen von so genannter Schundliteratur kam. Träger dieser Aktivitäten waren Lehrer. Eine führende Rolle spielten dabei die Vereinigten Jugendschriften-Ausschüssen im Allgemeinen Deutscher Lehrer- und Lehrerinnen- Verband bzw. der GEW. Eine wichtige publizistische Rolle spielte dabei die Verbandszeitschrift „Jugend-Warte“, aus der die im weiteren wiedergegebenen Zitate und Auszüge stammen.

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen Comics, die Angriffe richteten sich aber auch gegen Illustrierten und selbst gegen Jugendzeitschriften wegen ihrer „zerstreuenden und zerfasernde Wirkung“, denn so heißt es im Heft 12/1958 der Jugendschriften-Warte: „Das Ziel jeder literar-pädagogischen Unterweisung ist die Erziehung zum Buch. Dieses Ziel ist unverrückbar und darf durch eine Jugendzeitschrift nicht gemindert oder gar gefährdet werden.“

Die Kontinuität bestimmter Argumentationsmuster liegt trotz veränderter Wortwahl und Ausgangslage auf der Hand. Unabhängig davon, welche Schlüsse man aus dieser Kontinuität zieht, sollte man sie zur Kenntnis nehmen und sich mir ihr auseinandersetzen.

Comics führen zu Kriminalität

Die New-Yorker Kinderärztin Hildegard Mosse hat sich kürzlich ausführlich darüber geäußert. Neuerdings räumt sie auf Grund ihrer praktischen Erfahrung mit der bisher häufig vertretenen Meinung auf, Kriminalität könne niemals durch Verbrecherstrips hervorgerufen werden, vielmehr werde durch solche Strips höchstens eine bereits vorhandene verbrecherische Veranlagung „ausgelöst“. Diese Ansicht sei falsch, sagt sie. Das Lesen von Verbrecherromanen verlangt nach ihrer Auffassung vom Jugendlichen immerhin eine gewisse intellektuelle Tätigkeit, die die krankhaften Wucherungen der Phantasie überdeckt und mehr oder weniger in den Hintergrund drängt. Dagegen hat das primitive Bild eine viel suggestivere Kraft, die geradezu die Persönlichkeit zu verändern vermag. Es verlangt von der Phantasie auch kaum noch irgendwelche eigene Tätigkeit. Dr. Mosse weiß diese Behauptung mit Beispielen aus ihrer Praxis zu belegen. (3/1956)

Es gibt nicht nur eine Zersetzung der Moral sondern auch eine Zersetzung der geistigen Leistungsfähigkeit

Vor fünf Jahren haben die Comics ihr zersetzendes Werk in Deutschland begonnen. Der EHAPA-Verlag weist eine zersetzende Wirkung der Micky Maus zurück und beschränkt sie auf die Horror-Comics. Es gibt nicht nur eine Zersetzung der Moral sondern auch eine Zersetzung der geistigen Leistungsfähigkeit- und diese ist nicht ungefährlicher. Ueber den Anteil der Comics an der Verdummung der Jugend ist an dieser Stelle mehrfach geschrieben worden. Es genügen daher einige Schlagworte: Reizüberflutung, Verhinderung einer echten Lesefähigkeit, d.h. einem Wortwerk den gemeinten Sinn entnehmen, Verkümmern der eigenen Vorstellungskräfte, Anhäufung von nicht verwendbaren unsinnigen Fantastereien, Einbruch in die Familie – in das gemeinsame Lesen, Geschmacksverbildung durch kitschige Bilder….(12/1959)

Es ist nicht wichtig, wie viel sondern was gelesen wird

Lesen heißt mehr als Buchstaben, Wörter und Sätze erkennen. Darüber hinaus führt das Lesen von Comics nicht einmal zu den richtigen mechanischen Gewohnheiten des Lesens, weil das Lesen der Comics nicht in fortlaufenden und gleichmäßigen Linien erfolgt, also nicht lehrt, mit den Augen die richtige Spannweite einzunehmen und durch schnelle Bewegung des Auges den Beginn der nächsten Reihe zu finden. Zudem ist die Lesbarkeit des Textes oft so schlecht, daß die Sehkraft des Kindes leidet. (10/1956)

Der primitivste Schriftsteller fordert mehr geistige Anstrengung als alle Comic strips zusammen

An einem Band Karl May etwa muß der jugendliche Leser drei Tage lang kauen und dabei mehr Geographie, Folklore und moralische Erörterungen verdauen, als ihm Abenteuerschocks geboten werden. Wie man auch über den Wert der Karl Mayschen Schilderungen und Predigten denken mag – die 500 Seiten müssen gelesen und die gedruckten Sätze phantasievoll in Vorstellungen umgesetzt werden. Der Comic strip jedoch schleicht sich an den Denk- und Phantasiezentren vorbei und klebt die Vorstellungswelt des gänzlich unangestrengten Betrachters mit Schreckensplakaten voll. (4/1956)

Von der Sprache ist wirklich nicht mehr übrig geblieben als nur ein paar Ausrufe und Lautnachahmungen und höchstens gelegentlich…ein Krüppelsatz

Mit diesem geistigen Schwundverfahren kommen die Strips denjenigen unter ihren “Lesern” entgegen, die gar nicht in der Lage sind, logisch dem Verlauf eines Satzes zu folgen. Wir erkennen solche Leser unter den Schülern immer dann, wenn sie selbst versuchen, ihre oder fremde Gedanken in Worten – eines einfachen Satzes! – aus-zudrücken. Es gibt sie unter den Volksschülern in nicht geringer Zahl. Die alte Forderung, sie sollten in einem vollständigen Satz antworten, führt fast immer zur Katastrophe. Sie sind der logischen Aufgabe, die ein Satz immerhin an sie stellt, nicht gewachsen. (4/1956)

Vergessen wir dabei auch nicht die Inseratenteile, deren Gestaltung teilweise die Pornographie streift

Wir kontrollieren die Produktion der Heftindustrie. Die Kinder sollen keine schlechten Schmöker kaufen. (Gibt es überhaupt gute?) In den Illustrierten aber kann jedes Kind den nachkonstruierten fotografierten Ablauf jeglicher Verbrechen studieren. Es kann Woche für Woche die Tatsachenberichte übelster Verbrechen lesen, und wenn sie Jahrzehnte zurückliegen. Es lernt Geschichte im Hintertreppenstil, möglichst aus der Perspektive der Boudoirs und des dazugehörigen Mobiliars. Aber auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln die bebilderten Gazetten in Fortsetzungen, vom Liebesleben unbekanntester Völkerstämme bis um das Wissen von der Bedeutung der konzeptionsfreien Tage mit den dazugehörigen Tabellen.

Alles, alles können lesefreudige Kinder hier lernen, denn die Eltern kaufen es ihnen wöchentlich kiloweise. Sie legen ihnen alles mappenweise auf den Familientisch. Niemand macht sich da Gedanken darüber, wie dieser Geschmacksunrat Woche für Woche in das Hirn und in die Seelen der jungen Leser träufelt. (4/1956)

Wenn man sie nicht lesen läßt, werden sie auch nie in das Reich des Geistes und der Bildung kommen

Die Jugend kennt ja gar nicht mehr jenes einmal so selbstverständlich gewesene Bildungsleben, als der Bücherschrank noch eine ehrfürchtig empfundene Weihe ausstrahlte und die ganze Familie lesend oder gemeinsam dem Vorleser lauschend sich unter dem trauten Schein der Feierabendlampe zusammenfand. So atmet die Jugend auch nicht mehr in jener Atmosphäre der Stille und des Einfachen, die so selbstverständlich zu dem verlorenen Bildungsleben gehörte,…Man liest bestenfalls noch, um sich zu unterhalten, um sich von “den Nöten des Lebens”, vor seiner aufpeitschenden Betriebsamkeit in eine “milde Narkose” zu versetzen. Denn in der allgemeinen Hetzjagd verlor der Feierabend seinen bildenden Sinn, und man tauschte dafür die Gier nach Betrieb, nach Sensation um jeden Preis ein. (10/1956)

Wolf-Rüdiger Wagner: Die Lehrer von heute – Comic-Leser von damals?, in: Computer und Unterricht, Heft 53/2004, S. 10

Die Bilder stammen aus einer Diareihe (ca. 1955) zu einem Vortrag mit dem Thema „Gefährliches Lesen“.

 

Ausführlich zum „Gefährliches Lesen“

 


Gefährliches Lesen

 

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