Klavierspiel. Man nennt es auch eine ‚moderne Seuche‘, da es in alle Schichten der Bevölkerung eingedrungen ist, und da es leider von Unbegabten ebenso gepflegt wird, wie von Begabten. Nervöse Personen werden durch übermäßige Ausübung derselben noch reizbarer, als sie schon sind; es ist daher nur mit Vorsicht zu üben und schwachen Mädchen mit erregtem Herzen, Blutarmut und Neigung zu starken Menstruationen ganz zu verbieten. Anders verhält es sich mit dem Singen. Mäßig betrieben kräftigt es den Organismus und leitet das Blut vom Becken ab. Man lasse also schwächliche Mädchen eher Gesangsunterricht nehmen, als Klavierspiel beginnen.
Fischer-Dückelmann, Anna: Die Frau als Hausärztin. Ein ärztliches Nachschlagebuch der Gesundheitspflege und Heilkunde in der Familie. Stuttgart 1911, S. 699f.
Aus aktuellen, ganz alltagspraktischen Erfahrungen aus der Welt der Nachbarn sind die über 100 Jahre alten Erkentnisse über das Klavierspielen von Mädchen nicht völlig von der Hand zu weisen. Ob allerdings die genannten physischen Ursachen oder aber nur ein gewissss Maß an schlichter Unbegabtheit vorliegen, kann abschließend nicht beurteilt werden.
Lieber Herr Günther, lieber Leser meines Blogs, Sie befinden sich mit Ihrer allergischen Reaktion auf die „Clavierseuche“ fürwahr in guter Gesellschaft. Bezeichnet doch schon Heinrich Heine in einem Bericht aus Paris im Jahre 1843 das Pianoforte als „Marterinstrument“. Weiter heißt es bei Heine:
„Diese ewige Klavierspielerei ist nicht mehr zu ertragen! (Ach! meine Wandnachbarinnen, junge Töchter Albions, spielen in diesem Augenblick ein brillantes Morceau für zwei linke Hände.) Diese grellen Klimpertöne ohne natürliches Verhallen, diese herzlosen Schwirrklänge, dieses erzprosaische Schollern und Pickern, dieses Fortepiano tötet all unser Denken und Fühlen, und wir werden dumm, abgestumpft, blödsinnig.“ (Heinrich Heine Werke Bd. 3, Frankfurt am Main: Insel Verlag 1968, S. 496f.)
Und auch aus der akademischen Welt erhalten Sie Unterstützung. Hier ein Auszug aus einem Brief des Musikästheten und einflussreichen Musikkritikers Eduard Hanslick, der 1884 in der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ (H. 35, S. 572) veröffentlicht wurde:
„Sie wünschen meine Ansicht über jene unbarmherzige moderne Stadtplage zu hören, die es heute glücklich bis zu der ehrenvollen Bezeichnung Clavierseuche gebracht hat. […] ich halte die herrschende Seuche für unheilbar und glaube, daß wir nur mittelbar, auf weiten ästhetischen und pädagogischen Umwegen dahin gelangen können, ihren verheerenden Fortgang allmählich einzudämmen.
Die Qualen, die wir täglich durch nachbarlich klimpernde Dilettanten oder exercirende Schüler erdulden, sind in allen Farben oft genug geschildert. Ich glaube allen Ernstes, daß unter den hunderterlei Geräuschen und Mißklängen, welche tagüber das Ohr des Großstädters zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musikalische Folter die aufreibendste ist. In irgend eine wichtige Arbeit oder ernste Lectüre vertieft, der Ruhe bedürftig, oder nach geistiger Sammlung ringend, müssen wir wider Willen dem entsetzlichen Clavierspiel neben uns zuhören; mit einer Art gespannter Todesangst warten wir auf den uns wohlbekannten Accord, den das liebe Fräulein jedesmal falsch greift, wir zittern vor dem Laufe, bei welchem der kleine Junge unfehlbar stocken und nun von vorn anfangen wird. In diesem psychologischen Zwang, dem verwünschten Clavierspiel mehr oder minder aufmerksam zu folgen, liegt wohl hauptsächlich die quälende Specialität gerade dieses Geräusches.“