Eine (noch immer aktuelle?) Polemik aus dem Jahre 1996
Der Erziehungswissenschaftler Heinrich Roth schrieb 1965, dass es in Deutschland noch immer einer „Blasphemie“ gleichkäme, zwischen Zivilisation und Kultur, zwischen Technik und Geist keinen Gegensatz zu sehen. Dreißig Jahre später sind „Stille-Übungen für Kinder“ der Renner in der Lehrerfortbildung, auch „Wahrnehmen mit allen Sinnen“ ist gefragt. Zufall wäre es, falls sich genügend Teilnehmer und Teilnehmerinnen zum Thema „Beverly Hills – Lesen im Fernsehzeitalter“ einfänden. Auf Ablehnung stößt sicherlich die Idee, mit einer Unterrichtseinheit „Chip-Suche“ in die Grundschulwelt einzubrechen. Wobei nicht die Chips aus der Tüte gemeint sind, sondern „Chip“ als Abkürzung für elektronische Systeme steht, die mit ihren Sensoren und Detektoren in Küchenmaschinen, Geldautomaten, automatischen Türöffnern Teil unseres Alltags geworden sind.
Man läuft kein Risiko mit der Feststellung, dass in allgemein bildenden Schulen – abgesehen von Schulbuch und schriflichen Texten – der Unterrichtsalltag der meisten Lehrkräfte bis auf den heutigen Tag medienfrei geblieben ist. Die mangelnde Medienausstattung liefert hierfür keine ausreichende Erklärung. Offensichtlich fühlen sich viele Lehrkräfte in ihrer Medienabstinenz durch ihre kritische Einstellung zu Massenmedien und Mediengesellschaft legitimiert. In keinem anderen Bereich verdichtet sich der gesellschaftliche Mediendiskurs zu einem vergleichbar kulturpessimistisch aufgeladenen Gemisch von Nostalgie, Ökokitsch und Technikangst. Zur Entlastung der Lehrer und Lehrerinnen sei auf die akademischen Zulieferer verwiesen, die mit schnellen Statements zu Computerwitwen oder zu Cyber-Sex auf den Konjunkturwellen der Medienkritik surfen.
Es geht nicht darum, Medienkritik an sich zu diffamieren. Ärgerlich an dem gängigen medienkritischen Diskurs ist, dass er sich radikal gibt, aber an der Oberfläche bleibt.
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Medienkritik, Ökokitsch und Technikangst pdf
Aus: Aviso – Informationsdienst der Deutschen gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft – Nr. 16/April 1996, S. 7 – 10
Abb. Cartoon „Wireless Telegraphy“ aus Punch 1906