Illustrationen müssen „im geschäftlichen Interesse ein bischen lügen“ – Medienkritik im Jahr 1888

„Die Xylographen unserer illustrierten Zeitungen fixieren mit unermüdlicher Eilfertigkeit die brühwarmen Ereignisse vom letzten Datum. Ihre nächste Aufgabe ist es, der sinnlichen Vorstellungsträgheit der Zeitungsleser nachzuhelfen, nicht aber ein urkundliches Bild des Faktums zu geben, was in den meisten Fällen gar nicht geleistet werden kann. […] Und was hierbei das Bedenklichste ist: die Kunst, welche die ehrlichste sein sollte, weil sie direkt der Natur verpflichtet ist, sie lernt lügen, ja sie muß im geschäftlichen Interesse ein bischen lügen. Auch auf dem Schauplatz des Ereignisses kann derReporter mit der Zeichenmappe, der vielberufene ‚Spezial-Artist‘, ohne eine gewissen Anschauungsschablone nicht fertig werden; selbst die flinkste Sehkraft wäre dem Wettlauf mit dem rein Momentanen nicht gewachsen. Das Illustrations-Gewissen ist denn mit der Zeit ziemlich lax geworden. Das große Reitergefecht, von welchem das letzte Telegramm berichtete, muß möglichst rasch gebracht werden. Warum nicht? Nach den gegebenen Terrainverhältnissen, nach der von den Manövern her bekannten Kampfweise der beiden Kriegsparteien dürfte das ganz so beiläufig ausgesehen haben. Dieses ‚So beiläufig‘ ist das Sujet der Illustration. Ganz ebenso, wenn es sich um das Bild einer Regatta, einer Illumination, eines pomphaften Empfanges allerhöchster Gäste, eines Festbanketts zu irgend einer Säkularfeier u.s.w. handelt.“ (Bayer 1888, S. 3)

Ein Beispiel für das laxe „Illustrations-Gewissen“

Extrabeilage zu Ueber Land und Meer Nr 24/1888,  S. 1
Die Gartenlaube Nr. 11/1888, S. 169

 Das Ereignis: Die Fahne auf dem kaiserlichen Palais wird am 9. März 1888 auf halbmast gesetzt, um den Tod Wilhelm des Ersten bekannt zu geben. Den Lesern der Zeitschriften Die Gartenlaube und Über Land und Meer soll jeweils ein unmittelbarer Eindruck von diesem zeremoniellen Moment über eine Illustration vermittelt werden. In der Gartenlaube senkt ein Bediensteter die Fahne, während in der Zeitschrift Über Land und Meer diese Aufgabe von einem Mitglied der Leibgarde ausgeführt wird. (vgl. Der Kunstwart 1887 – 1888, S. 193) Da fragt man sich doch, welche Bedeutung es haben soll, dass in der Gartenlaube von einer „Originalzeichnung“ die Rede ist.

Literatur

Bayer, Joseph [1888]: Illustrationen. In: Neue Freie Presse vom 23. März/1888, S. 1 – 3
Der Kunstwart H. 14/1887 – 1888, S. 193


Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s