An konkreten Beispielen zeigt sich sofort, dass die Prozesse, in denen Wissen generiert, distribuiert und kommuniziert wird, nicht auf ein einzelnes Verfahren zu reduzieren sind, sondern dass es immer um eine Vernetzung verschiedener Verfahren geht.
In der Rezension eines Buches mit dem Titel „Die physikalischen Kräfte im Dienste der Gewerbe, der Kunst und der Wissenschaft“ wird eine Illustration aus dieser Veröffentlichung wiedergegeben, „welche drei Beobachter an einem Mikroskop zeigt, […], womit ein und dasselbe Objekt von verschiedenen Personen gleichzeitig betrachtet und in zweifelhaften Fällen ein sicheres Resultat aus den sich gegenseitig kontrollierenden Wahrnehmungen gezogen werden kann.“ (Zweite Daheim-Beilage zu Nr. 10/1882)
Damit das Mikroskop für Medizin und Biologie zu einem zentralen Medium werden konnte, musste der einsame Blick des Forschers auf das Präparat durch die Möglichkeit ergänzt werden, die mikroskopischen Befunde zu kommunizieren. Sprachliche Beschreibungen und Zeichnungen sind hierfür allein nicht geeignet, da sie subjektiv gefärbt sind und das Objekt nicht in seinem Detailreichtum wiedergeben können. Erst die fotografische Reproduktion mikroskopischer Befunde ermöglichte die zeitunabhängige Begutachtung durch mehrere Personen. Zudem lassen sich mikroskopische Objekte anhand der fotografischen Reproduktion präziser messen und auswerten als bei der direkten mikroskopischen Beobachtung. Nicht zuletzt kann man Fotografien sammeln und vergleichen. Allerdings liefert auch die Fotografie keine Selbstabbildung der Wirklichkeit. Darauf verweist schon die Bedeutung, die der Einfärbung der Präperate zukommt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die technische Aufrüstung des Blicks durch das Mikroskop mit Hilfe der Fotokamera die Abhängigkeit von der Technik nicht aufhebt, sondern eher verdoppelt.(vgl. Wagner 2013)
Beim Blick durch ein Mikroskop erschließt sich die Wirklichkeit nicht von selbst. Auch beim Einsatz moderner technischer Medien wie dem Mikroskop wird die soziale Dimension der Wahrnehmung durch die Technik nicht außer Kraft gesetzt. Bei Robert Koch klingt dies an, wenn er den spezifischen Wert reproduzierbarer Abbildung mikroskopischer Befunde für die wissenschaftliche Diskussion und Lehre betont, da „beim Mikroskopiren nicht zwei Beobachter zu gleicher Zeit dasselbe Object ins Auge fassen und sich darüber verständigen können.“ (Koch 1881, S. 10)
Aber auch hier zeigt sich, mediale Eigenschaftenlassen sich nur mit Bezug auf einen Verwendungszusammenhang bewerten. Als Koch nicht mehr über Fotografien den Nachweis für die Existenz von Bakterien erbringen musst, arbeitete er „in seinen Publikationen wieder mit Zeichnungen […]. Denn die Fotografie wies auch so manchen Nachteil auf: Sie erlaubte damals nur schwarz-weiße Abbildungen und war aufgrund von Überlagerungen verschiedener Strukturen nur mit geübtem Auge lesbar. Mit Zeichnungen dagegen konnten farbige Charakteristika der verschiedenen Bakterien anschaulich gezeigt werden.“ (Becker 2010)
Auch beim Einsatz moderner technischer Medien wie dem Mikroskop laufen sozial gesteuerte Prozesse der Blickbildung ab, wird die soziale Dimension der Wahrnehmung durch die Technik nicht außer Kraft gesetzt. Der polnische Mikrobiologe und Mediziner Ludwik Fleck hat in historischen Fallstudien aufgezeigt, dass sich die „Wirklichkeit an sich“ unter dem medizinisch-wissenschaftlichen Blick durch das Mikroskop nicht von selbst erschließt. So ergeben sich bakteriologische Untersuchungsbefunde nicht automatisch beim Blick durch das Mikroskop.
Um im Abstrich unter dem Mikroskop den keulenförmigen Bazillus der Diphterie zu erkennen, ist Vorwissen nötig, zu dem auch ein Krankheitsbegriff zählt, in dem Infektion eine Rolle spielt. Wissenschaftler einer Fachdisziplin gehören nach Fleck einem „Denkkollektiv“ an. Dieses Denkkollektiv schafft die gemeinsame Grundlage, auf der forschende und lehrende Wissenschaft ausgeübt wird. Diese gemeinsamen Grundlagen – vor allem auch die darin implizit enthaltenen Annahmen – bezeichnet Fleck als „Denkstil“ (Fleck 1980, S. 54f.) An anderer Stelle definiert Fleck „Denkstil“ „als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“. (Fleck 1980, S. 130) In diesem Zusammenhang formuliert Fleck eine geradezu medienpädagogische Prämisse: „Es gibt kein anderes Sehen als das Sinn-Sehen und keine anderen Abbildungen als die Sinn-Bilder.“ (Fleck 1980, S, 186f.)
Literatur
Becker, Conny: Robert. Koch. Bakterien im Bild. In: Pharmazeutische Zeitung online 21 Ausgabe/2010
Fleck, Ludwik [1980]: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Koch, Robert [1881]: Zur Untersuchung von pathogenen Organismen, in: Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte Bd. 1, S. 1- 48
Wagner, Wolf-Rüdiger[2013]: „Die Bedeutung der Fotografie für die Akzeptanz der Mikroskopie“. In: ders.: Bildungsziel Medialitätsbewusstsein. Einladung zum Perspektivwechsel in der Medienbildung. München: kopaed 2013, S. 226 ff.
Abbildungen
Abb. Mikroskop mit drei Rohren: Zweite Daheim-Beilage zu Nr. 10/1882
Abb. Neuer mikrophotographischer Universalapparat: Eder, Josef Maria (Hrsg.): Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik für das Jahr 1906. Halle a. S.: Wilhelm Knapp, S. 105