Highttech und populäre Musik im 19. Jahrhundert

Ein Beitrag zur Archäologie der Medienkultur

Die Gartenlaube H_25_1898

Leierkasten als Volkserzieher
Dem aufmerksamen Beobachter wird, wohl in allen Theilen unseres großen deutschen Vaterlandes in gleicher Weise, eine eigenthümliche Erscheinung auffallen. Wir meinen das gleichsam epidemische Auftreten eines volksthümlichen Lieblingsliedes aller Welt. Dasselbe verbreitet sich, meistens von einer großen Stadt ausgehend, strahlenförmig über ganze Provinzen, ja Länder, bis in die entlegensten Dörfer und Flecken derselben, wird von Alt und Jung in rastlosem Eifer gesungen und verschwindet dann wieder – um von einem neuen verdrängt zu werden. […]
[…] der Leierkasten muß dem niedrigsten Volksschichten gegenüber in aller Wahrheit als ein Lehrer, ein Erzieher betrachtet werden. Aus seinen politischen Liedern entnimmt der Bube seine ersten Begriffe und Anschauungen von der Welt: er zieht im Geiste mit hinaus nach Schleswig-Holstein und ruft mit seinen Beinchen auftrampelnd: „Up ewig ungedeelt!“ An den Liebesliedern des Leierkastens entflammen sich die ersten heißen und süßen Gefühle im Herzen des jugendlichen Dienstmädchens und willig wird auch der so sauer erworbene Groschen noch für die „fünf neuen Lieder“ dahingegeben, um die liebliche Worte sorgfältig nachstudieren zu können.
Leider ist aber der Leierkasten in neuerer Zeit vollständig in die Fußstapfen des Volkstheaters getreten, hat sich fast ausschließlich der Posse zugewandt und ist daher, fast überall, ebenso wie die Bühne, im Stadium des „höheren Blödsinns“ angelangt. […]
An die Humanität und Einsicht aller wahren Volksfreunde appellirend, mache ich auf diesen argen Mißstand nicht blos aufmerksam, sondern füge auch eine dringende Mahnung hinzu. Meines Erachtens ließe sich nämlich unendlich Segensreiches stiften, wenn in jeder Stadt wohlmeinende und befähigte Männer zusammentreten und Vereine gründen möchten, welche sich die Aufgabe stellen: die volkserziehenden Leierkasten, in billigster Weise, immer mit guten und volksthümlich gedichteten Lieder, namentlich nationalen und patriotischen Inhalts zu versehen. Sehr schwierig könnte dies Ziel wahrlich nicht zu erreichen sein – und welch reicher Segen würde daraus erblühen! […]

Gartenlaube Nr. 42/1865, S. 672

Der Leierkasten – ein Phänomen der Medienlandschaft des 19. Jahrhunderts
Bilder von Kriegsinvaliden, die in Berliner Hinterhöfen die Kurbel ihres Leierkastens drehen, lassen leicht übersehen, dass es sich bei der Verbreitung von populären Liedern mit dem Leierkasten bzw. der Drehorgel um ein typisches Phänomen der Medienlandschaft im 19. Jahrhundert handelt. Nicht nur Gassenhauer und Opern- und Operettenmelodien wurden auf diesem Weg schnell verbreitet, sondern das mobilisierende Potenzial der Musik wurde auch für politische Zwecke eingesetzt. Bei diesen mechanische Musikautomaten handelte es sich komplexe Instrumente, die in spezialisierten Werkstätten hergestellt wurden.

Der Leierkasten als „programmiertes“ Musikinstrument
Stiftwalze„Im Gegensatz zu einer manuell spielbaren Orgel mit einer Klaviatur wird die Ansteuerung der Töne durch einen Programmträger übernommen, der sich in der Spieleinrichtung befindet. Die älteste Form des Programmträgers ist die Stiftwalze. Diese ist seit dem Altertum bekannt. Anfang des 20. Jahrhunderts hat das Lochband bzw. der Lochkarton die Stiftwalze abgelöst. Eine Stiftwalze (meist auswechselbar) kann bis zu zwölf Musikstücke, verbreitet sind sechs bis acht Musikstücke, enthalten. Die Lauflänge des Musikstückes ist durch den Walzenumfang begrenzt. Durch austauschbare Lochbänder oder Lochkartons ist die Spieldauer und die Zahl der spielbaren Lieder fast unbegrenzt.“ (SWR Fernsehen)
Ihr Erwerb war mit so hohen Kosten verbunden, dass Drehorgeln zum Teil gewerblich verpachtet und verliehen wurden. Die Stiftwalzen mit den jeweils aktuellen Liedern mussten erworben werden. Der Verkauf von Flugschriften mit den Liedtexten bildete eine der Einnahmequellen der Drehorgelspieler (Vgl. Grosch 2014, S. 106f.)

Literatur
Grosch, Nils 2014: Die Drehorgel und die Eroberung des öffentlichen Raums durch populäre Musik im 19. Jahrhundert, in: Prügel, Roland (Hrsg.): Geburt der Massenkultur, Nürnberg, S. 106-109