Ein Sommerlochbeitrag zur Entschleunigung

1887 – KRITIK AM STILLEN LESEN

Während heute nur noch in wenigen Situationen „laut gelesen“ wird, war dies bis ins 19. Jahrhundert hinein die übliche Form des Lesens. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts attackierte der einflussreiche Germanist Heinrich Rudolf Hildebrand* in seinem Buch „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt“ das „stille Lesen“ oder „Augenlesen“ heftig:
„…dieß rasche Lesen, d.h. Durchjagen des Gedankens durch oder über eine Uebermenge von Einzelheiten, Begriffen, Vorstellungen, Gedankenverbindungen hin (um von den Empfindungen nicht zu reden), dieß jagende Lesen macht ein reines Auffassen so zu sagen mechanisch unmöglich, denn die Anschauung und Empfindung, die doch allein die wirkliche Betheiligung des Geistes und der Seele bedingen und darstellen, können nicht folgen, weil sie ein Verweilen brauchen, sie ziehen sich erlahmend zurück, verkriechen sich in eine Art Schlummerzustand; wer so list, ist wie Einer, der mit dem Schnellzug z.B. durch einen schönen Wald fährt und dabei eigentlich weder vom Walde einen Begriff bekommt noch auch die Bäume wirklich sieht, es verschwimmt ihm Alles, das Ganze wie das Einzelne in wesenlosen Schatten. Das rasche Augenlesen hilft nebst anderen Einflüssen der Zeit unser gesundes Empfinden und Denken zernagen, an dem doch aller Fortschritt hängt, alle Rettung aus den schweren Gefahren unsrer Zeit.  (Hildebrand 1887, S. 44 f.)

* Hildebrand (1824 – 1894) war Professor für Deutsche Sprache und Deutsche Literatur an der Leipziger Universität. Unter anderem arbeitete er seit 1852 am Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm mit, dessen Herausgabe er .nach dem Tod Jakob Grimms im Jahr 1863 übernahm.

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