Die „Allsprecher“ wurden als „flachen Hülsen […]in der linken Brusttasche getragen, aus der sie fingerbreit hervorragten.“ [Jünger 1951, S. 335]
»[Der Allsprecher erteilt] in jedem Augenblick Orts- und astronomische Zeit, Länge und Breite, Wetterstand und Wettervoraussage. Ersetzt Kennkarte, Pässe, Uhr, Sonnenuhr und Kompaß, nautisches und meteorologisches Gerät. Vermittelt automatisch die genaue Position des Trägers an alle Rettungswarten bei Gefahren zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft. Verweist im Peilverfahren an jeden Ort. Weist auf den Kontostand des Trägers beim Energeion und ersetzt auf diese Weise das Scheckbuch bei jeder Bank und jeder Postanstalt, und in unmittelbarer Verrechnung die Fahrkarten auf allen Verkehrsmitteln. Gilt auch als Ausweis, wenn die Hilfe der örtlichen Behörden in Anspruch genommen wird. Verleiht bei Unruhen Befehlsgewalt.
Vermittelt die Programme aller Sender und Nachrichten-Agenturen, Akademien, Universitäten, sowie die Permanentsendungen des Punktamtes und des Zentralarchivs. Hat Anschluß an alle Radiostationen mit ihren Strömen des Wissens, der Bildung und UnterHaltung, soweit sie durch Ton und Wort zu übermitteln sind. Gibt Einblick in alle Bücher und Manuskripte, soweit sie durch das Zentralarchiv akustisch aufgenommen sind, ist an Theater, Konzerte, Börsen, Lotterien, Versammlungen, Wahlakte und Konferenzen anzuschließen, und kann als Zeitung, als ideales Auskunftsmittel, als Bibliothek und Lexikon verwandt werden.
Gewährt Verbindung mit jedem anderen Phonophor der Welt, mit Ausnahme der Geheimnummern der Regierungen, der Generalstäbe und der Polizei. Ist gegen Anrufe abschirmbar. Auch kann eine beliebige Menge von Anschlüssen gleichzeitig belegt werden — das heißt, daß Konferenzen, Vorträge, Wahlakte, Beratungen möglich sind. Auf diese Weise vereinen sich die Vorzüge der Telephone mit denen der Radios.« [Jünger 1956, 336 f.]
Aus : Ernst Jünger : Heliopolis.Rückblick auf eine Stadt, Berlin und Darmstadt 1956, S. 334 -340 Begonnen am 10. Januar 1947 in Kirchhorst Beendet am 14. März 1949 in Ravensburg
In der neuesten Zeit bedienen sich zahlreiche englische Amateure und Touristen dreirädriger Velocipedes für photographische Excursionen; die Touren sollen dadurch unendlich erleichtert werden, und gegenwärtig werden zahlreiche diesbezügliche Velocipedes-Constructionen auf den Markt gebracht.
Der Gebrauch des Velocipedes ist besonders in England ein allgemeiner geworden und das Tricycle ist gegenwärtig ein Gegenstand des Vergnügens und der practischen Verwendung. Die Vervollkommnung und neue Verwendung desselben als ‚Photo-Tricycle‘ dient wohl mehr zum Vergnügen; jedoch wird sich wohl auch eine nützliche Seite abgewinnen alssen. Man muss dieser Verbindung von Photographie und rascher Reisegelegenheit eine geeignete Form geben und hierzu liegen mehrfache Versuche vor. […] Diese Neuerung ist in Amerika und England schon in Gebrauch und wird sich auch anderwärts bei den Liebhabern des Tricycle-Sports Eingang verschaffen, denn die Beschreibung derselben, wie der Cylist durch Wald und Flur eilt und die Schönheiten der Natur im Fluge geniesst und bei besonders anziehenden Gegenden Halt macht und das Bild ohne Mühe aufnimmt und Albums der durchfahrenen Strecken zur Erinnerung sammelt, klingen in der That verlockend. (Eder 1886, S. 75 – 77)
Abb. Photo-Tricycle von Rudge und Co, In: Eder 1886, S. 76
Literatur
Eder, Josef Maria [1886]: Die Moment-Photographie in ihrer Anwendung auf Kunst und Wissenschaft, Halle a. Saale: Wilhelm Knapp
Eine Abhandlung des Herrn Baron von Gleichen, genannt Rußworm
Was nützt der Blick durch ein Mikroskop, wenn man niemanden zeigen kann, was man sieht?
Am Beispiel des Mikroskops zeigt sich, dass Beobachtungen und Erkenntnisse erst durch die entsprechende Speicherung der Befunde und deren Reproduktion in Publikationen für den wissenschaftlichen Diskurs relevant werden.
Hauptvorteile des Sonnenmikroskops
„Es bestehen aber die Hauptvortheile des Sonnenmikroskops kürzlich darinnen: 1.) daß man einer ganzen Gesellschaft, worunter sich immer welche befinden, die eine ärgerliche Ungeschicklichkeit verrathen, wenn sie durch ein Handmikroskop sehen sollen, ein vergrößertes Objekt auf einmal zeigen kann. […] 3.) Daß man alle durchsichtige Körper und die Bewegung belebter Wesen in dem Flüßigen, in einem großen Raum, und ohne sich im geringsten zu ermüden, sehr scharf und groß, obschon weger der Hitze des Brennpunkts nicht lange sehen kann. 4.) Daß die Umrisse dunkler, auch öfters, die innern Theile durchsichtiger Körper so genau nachgezeichnet werden können, als wären sie selbstens auf das Papier abgedrucket worden. 5.) Daß diese Zeichnungsart auch für den im Zeichnen unerfahrnen Beobachter, besonders bei den Salzanschlüssen, wo öfters unnachahmliche Figuren vorkommen, so leicht, als unfehlbar ist.“ (S. 11)
Mit einem Wort: es war ein Floh, und doch kein Floh
„Ich habe diesem Thier selbst sehr oft die Ehre angethan, es durch das Sonnenmikroskop zu vergrößern, meistentheils aber nur mit der Absicht, den Zuschauern ein Räthsel aufzugeben. Aber so gar diejenigen, die es kurz zuvor auf dem weisen Tischchen meines Mikroskops bei gedoppelter Reflexion gesehen und erkannt hatten, glaubten bei seiner nun Bärenmäßigen Erscheinung, da sie nichts weiter als einen braunen, dicken und haarigen Körper sahen ein anderes Thier vor sich zu haben. Mit einem Wort: es war ein Floh, und doch kein Floh.“ (S. 8)
Die Flut kommt und geht, Deiche müssen verstärkt und erneuert werden. Das gilt auch für die „Deiche“ gegen die Informationsflut. Nicht erst seit heute.
„Das Problem als solches reicht […] einige Jahrzehnte weiter zurück. Es hängt mit der großen Entwicklung der Naturwissenschaft und Technik im 19. Jh. zusammen und mit der parallel zu dieser Entwicklung anwachsenden Literaturmenge. Es wurde immer schwieriger, das laufend erscheinende nationale und internationale Schrifttum zu erfassen und erkenntnismäßig auszuwerten. Das galt nicht nur für die naturwissenschaftlich-technische Forschung, sondern auch für den sich differenzierender geisteswissenschaftlichen Bereich. Äußeres Merkmal dieser Schwierigkeit war das Zurücktreten der alten bis dahin vorherrschenden Publikationsform des Buches und das Anschwellen der neuen Publikationsform der Fachzeitschriften mit dem damit verbundenen Bedürfnis nach Sammlung und Analyse der Zeitschriftenbeiträge.“ (Siegel 1974, S. 4
Kartei versus Liste „Eine Kartei hat gegenüber einer Liste mancherlei Vorteile. Sie lässt jederzeit Ergänzungen zu, ohne dass das Ordnungsprinzip geändert zu werden braucht. Eine Kartei kann durch Einschaltungen und Ergänzungen wachsen; sie kann nach Belieben umgestellt und je nach Bedarf alpha-/ betisch, numerisch, chronologisch oder nach Sachverhalten geordnet werden.“ (Ruston 1963, S. 5f)
Randlochkarten „Als Erfinder der Randlochkarte ist der Engländer Alfred Perkins zu nennen (U.S. Patente 1 544 172 vom 30. Juni 1925 und 1 739 087 vom 10. Dezember 1929). […] Innerhalb eines Ablagesystems steht die Randlochkarte stellvertretend für ein bestimmtes Dokument. Dabei werden Dokumentationselemente den bereits vorhandenen Löchern zugeordnet. Die manuell oder vorwiegend manuell befragbaren Randlochkarten sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine, zwei oder mehrere Reihen von Löchern enthalten, die längs eines Randes, bzw. längs mehrerer oder sämtlicher Ränder einer Karte angebracht sind. Die Kennzeichung eines in einem Dokument auszuweisenden Begriffs erfolgt durch Kerbung oder Schlitzung jeweils desjenigen Loches oder derjenigen Lochkombinationen, denen der Begriff zugeordnet wird. Das eigentliche Selektieren geschieht für den Fall, dass die Fragestellung über ein einzelnes Loch beantwortet werden kann, durch Einführung einer stricknadelanalogen, zweckmässig geschaffenen Sonde in das entsprechend gekennzeichnete Loch. Für den Fall, dass der Fragestellung eine mehr- bzw. vielstellige Verschlüsselungszahl und demzufolge eine entsprechende Anzahl von Löchern bzw. Lochpaaren adäquat ist, kann eine Vielzahl von Sonden eingeführt werden. (Ruston 1963, S. 5f)
Wollte man mit diesem Karteisystem innerhalb einer Organisation oder sogar organisationsübergreifend arbeiten, setzte dies einen nicht unerheblichen Abstimmungsbedarf voraus, um die Merkmale, die auf der Karte festgehalten werden sollten, sowie die Anordnung dieser Merkmale festzulegen. Hinzukamen eine Reihe von „Hilfsgeräte zum Arbeiten mit Randlochkarten“ wie Kerbzangen in unterschiedlichen Ausführungen.
„Zweckmässigerweise verwendet man nur eine Zange für zweireihige Karten, mit der auch einreihige Karten gekerbt werden können. Es ist besonders darauf zu achten, dass die Zange einen glatten Schnitt ohne ausgefranste Ränder liefert. Um ein ermüdungsfreies Arbeiten zu sichern, darfdie Rückholfeder nicht zu kräftig sein. (Ruston 1963, S. 12)
Daneben gab es Tischkerbapparate, Stapelkerber für einreihige Randlochkarten, Fusskerbstanzen für ein- und zweireihige Randlochkarten usw.
Abb. Aus: Siegel 1974, ohne Seitenangaben
Literatur
Ruston, Edda: Die kombinierte Rand- und Sichtlochkartei,hrsg. von der Europäischen Atomgemeinschaft – EURATOM. Gemeinsame Kernforschungsstelle. Forschungsanstalt Ispra (Italien). Zentralstelle für die Verarbeitung wissenschaftlicher Information – CETIS. (CETIS Bericht Nr. 37). Brüssel, Juni 1963
Siegel, Heinz: Hilfsmittel zur Literatur-Erschließung und Dokumentation, Arbeitsgemeinschaft der Parlaments- und Behördenbibliotheken, Nr. 27 Arbeitshefte, Karlsruhe 1974
Süddeutsche Zeitung vom 19.08.2014 – Grenzbeamte an Flughäfen können gefälschte Passfotos oft nicht erkennen.
Der Vergleich fremder Gesichter mit Fotos fällt ihnen ähnlich schwer wie Ungeübten, berichten australische und britische Psychologen im Fachmagazin Plos One. […] Vertraute Gesichter können Menschen zwar sehr gut vergleichen. Das exakte Vergleichen fremder Gesichter kann dagegen nicht antrainiert werden, vermuten die Forscher. Dafür könnte eine spezielle Begabung notwendig sein. […] (Wenleder 2014)
1895 – Über den geringen Nutzen der Fotografie zur Erkennung von Verbrechern
„Wenn eine Klage der Polizeiämter berechtigt ist, so ist es diejenige über den geringen Nutzen der Photographie zur Erreichung eines flüchtigen Uebelthäters. – So vorzüglich sie sich bewährt hat, sagt man, um eine vermutete gegenwärtige Persönlichkeit festzustellen, so unzulänglich erweist sie sich als Ausforschungsmittel und es kann dem gewiegtesten Detektiv täglich begegnen, dass er an einem Menschen, dessen Bild er in der Tasche trägt, vorbeigeht, ohne ihn zu erkennen. Nun liegt sicher ein wenig Widerspruch darin, wenn man einerseits solche Misserfolge einer Unzulänglichkeit der Photographie zuschreibt und sie andererseits doch als ein Wiedererkennungsmittel von bedeutender Wirksamkeit anerkennt. Wir behaupten und glauben es bewiesen zu haben, dass das photographische Bild nach beiden Richtungen allen Anforderungen entsprechen und bedeutendere Dienste leisten würde, wenn die Fahndungsbeamten mit ihrem Gebrauche vertrauter wären, um ein Bild zu zerlegen, zu beschreiben, förmlich auswendig zu lernen; denn man muss, um das richtig anzuschauen, was man erblickt, schon im voraus wissen, welche Punkte man ansehen soll.“ (Bertillon 1895, S. XII)
Das Porträt parlé „Wir können nur das wieder vor unser geistiges Auge rufen, was wir beschreiben können.“ (Bertillon 1895, S. XIII)
Die Fotografie wurde in der Bertillonage durch das „Porträt parlé“ oder „Gedächtnisbild“ ergänzt, die es möglich macht, das Bild „förmlich auswendig zu lernen“. Mit Hilfe von „Deskriptoren“, also genauen Vorgaben für die Beschreibung von Nasen-, Ohrenformen usw. wurden die auf eine Karteikarte aufgeklebten Aufnahmen um ein „Porträt parlé“ erweitert.
Nach Forderung Bertillons Vorstellung sollten sich die Detektive, das Fahndungsbild selbst aktiv erschließen.
„[…] dass das beste und sogar einzige Mittel für den Detektiv, ein photographisches Bild gut dem Gedächtnis einzuprägen, darin besteht, sich eine genaue und vollständige Beschreibung desselben schriftlich anzufertigen […]. Der Fahndungsbeamte, der mit der schwierigen Aufgabe betraut ist, an der Hand einer Photographie einen Verbrecher auszuforschen und anzuhalten, muss im stande sein, die Züge und die Gestalt des Verfolgten aus dem Kopfe zu beschreiben, daraus mit einem Wort eine Art ‚Gedächtnisbild’ zu machen.“ (ebd. S. XIII)
USAToday 12.o2.2014
Die Erkennungsarbeit soll Streifenpolizisten durch Systeme wie Google Glass abgenommen werden, da sich mit Hilfe entsprechender Apps Gesichter automatisch mit denen aus einer Datenbank vergleichen lassen.
Literatur Bertillon 1895: Das anthropometrische Signalement, 2. vermehrte Auflage mit einem Album, autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. v. Sury, Professor der gerichtlichen Medizin an der Universität Basel, Leipzig Wagner: Wolf-Rüdiger 2013: Bildungsziel Medialitätsbewusstsein, München, S. 185 – 203 Wenleder, Andreas 2014: Gesichter lesen. In: Süddeutschen Zeitung – Wissen 19.08.2014
Abb. „Gedächtnisbild“ und „Ohrläppchen“ aus Bertillon a.a.O.
„Die Industrie hat hier der Kriegskunst unter die Arme gegriffen.“ – Vom Kriegstheater zum Kriegsschauplatz
Seit den Revolutionskriegen sind die modernen Armeen zu kollossalen Massen herangewachsen; es ist nichts Ungewöhnliches mehr, dass 150,000 – 200,000 Mann am Tage einer Schlacht gemeinschaftlich in Aktion treten. Außerdem sind bei der Tragweite der Geschosse die gegenüberstehenden Truppen meist in großer Entfernung von einander zu bleiben und eine sehr ausgedehnte Schlachtlinie zu bilden genöthigt. Diese Umstände machen die Funktion des obersten Kommandierenden weit schwieriger, denn er kann nicht mehr mit einem Blick das Ensemble der Operationen und die Bewegungen jedes Truppentheils überschauen. Mündlichen Befehl an die äußersten Punkte der Feuerlinie zu überbringen erheischte oft Stunden, während welcher die Umstände sich vollständig berändern können, so daß zuletzt jeder Kommandant für sich eine Schlacht lieferte. Die Industrie hat hier der Kriegskunst unter die Arme gegriffen. Es wurden nämlich im Lager von Chalon Versuche mit dem elektrischen Telegraphen gemacht. Im Hauptquartier wurde ein Zentralbureau errichtet; durch Fourgon’s wurden darauf Drähte nach verschiedenen Punkten geführt, so daß der Oberkommandant mit seinen Unterkommandierenden korrespondieren konnte. Die Drähte, welche mit einem isolierenden Stoffe umgeben waren, liegen einfach auf dem Boden; die Versuche haben die Sache als praktisch erwiesen. Man kann sogar mit der Nadel Zeichnungen machen, welche die Befehle ergänzen. Diese Anwendung des elektrischen Telegraphen muß notwendigerweise zur Vermehrung der Zerstörungsmittel beitragen, welche die europäischen Nationen seit einiger Zeit so lebhaft beschäftigen und die Taktik vollständig umschaffen.
Aus: Ueber Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung, Nr.1/1863, Text: S. 14, Abb. S. 12
Weltausstellung 1900 in Paris. Im Unterhaltungsangebot finden sich viele Panoramen. In den klassischen Panoramagebäuden konnten die Besucher den 360-Grad-Rundblick auf berühmte Stadtansichten und Landschaften von einer Aussichtsplattform aus genießen.
Es gäbe zahlreiche „Panoramen“ auf dem Gelände der Weltausstellung, aber nicht alle seien gleich interessant, liest man in der Ausgabe der populärwissenschaftliche Zeitschrift „La Nature“ vom Juni 1900. Vorgestellt werden in der Zeitschrift „moving panoramas“. Das Neue und Interessante an diesen Medien sei, dass den Besuchern dabei der Eindruck vermittelt werde, er bewege sich durch die Szenerie oder Landschaft (La Nature 1990, S. 402 ff.). Die Landschaft „ziehe“ an den Besuchern vorbei, so wie sie Reisende aus einem Zugabteil heraus, vom Deck eines Kreuzfahrtschiffes oder aus dem Korb eines Heißluftballons erlebten.
Unter diesen „moving panoramas“ verdiente nach der Zeitschrift „La Nature“ das „Maréorama“ besondere Aufmerksamkeit. Bei „moving panoramas“ bewegte sich bisher die Leinwand und der Zuschauer hatte den Eindruck, dass er sich bewegte, aber er spürte, dass sein Körper an der Bewegung nicht beteiligt war. Die Illusion war ganz und gar nicht perfekt. (La Nature 1900/2 S. 67) Das Maréoramar versprach dagegen ein multisensorische Erlebnis. Auf dem Deck eines Dampfers erlebte der Besucher eine Kreuzfahrt von Marseille nach Konstantinopel. Eine Vorrichtung sorgt für das Rollen und Stampfen des Decks. Rauchende Schornsteine und Dampfsirenen erhöhten die Illusion, während See- und Landszenen am Zuschauer vorüberzogen. Der Zuschauer erlebte Sonnenaufgänge, Nacht auf dem Mittelmeer und mit zuckenden Blitze und krachenden Donnerschlägen heraufziehende Unwetter. „Von Bord“ konnten Ansichtskarten mit Motiven der „Kreuzfahrt“ verschickt werden.
Im Verlauf der Reise wurde das Schaukeln des Schiffes stärker. Man hörte die Geräusche der Schiffschraube und der Dampfsirenen. Sogar Teergeruch lag in der Luft. Um die Illusion zu erhöhen eilten Besatzungsmitglieder über das Deck, um seekranken Passagieren zu helfen.
Während der „Kreuzfahrt“ zogen an Back- und Steuerbord zwei Leinwände mit einer Länge von 750 Metern und einer Höhe von 13 Metern an den Zuschauern vorbei. Komplizierter Mechanismen waren erforderlich, damit die 10.000 Quadratmeter Leinwand auf beiden Seiten gleichmäßig und störungsfrei auf- und abgewickelt wurden. Nicht weniger aufwendiger war die Kardanaufhängung des „Schiffsdecks“, um die gegenläufigen Bewegungen des Rollens und Stampfens zu simulieren.
Quellen La Nature. Revue des sciences et de leurs applications aux arts et à l’industrie: Les panoramas à l‘exposition II. Le maréorama, 1900/2 S. 67 – 69 Huhtamo, Erkki: Illusions in Motion. Media Aechaeology of the Moving Panorama and Related Spectacles, MIT 2013, S. 309 – 329 Abb.1 u. 2 La Nature. Revue des sciences et de leurs applications aux arts et à l’industrie, 1900/2 S. 68
Leierkasten als Volkserzieher Dem aufmerksamen Beobachter wird, wohl in allen Theilen unseres großen deutschen Vaterlandes in gleicher Weise, eine eigenthümliche Erscheinung auffallen. Wir meinen das gleichsam epidemische Auftreten eines volksthümlichen Lieblingsliedes aller Welt. Dasselbe verbreitet sich, meistens von einer großen Stadt ausgehend, strahlenförmig über ganze Provinzen, ja Länder, bis in die entlegensten Dörfer und Flecken derselben, wird von Alt und Jung in rastlosem Eifer gesungen und verschwindet dann wieder – um von einem neuen verdrängt zu werden. […]
[…] der Leierkasten muß dem niedrigsten Volksschichten gegenüber in aller Wahrheit als ein Lehrer, ein Erzieher betrachtet werden. Aus seinen politischen Liedern entnimmt der Bube seine ersten Begriffe und Anschauungen von der Welt: er zieht im Geiste mit hinaus nach Schleswig-Holstein und ruft mit seinen Beinchen auftrampelnd: „Up ewig ungedeelt!“ An den Liebesliedern des Leierkastens entflammen sich die ersten heißen und süßen Gefühle im Herzen des jugendlichen Dienstmädchens und willig wird auch der so sauer erworbene Groschen noch für die „fünf neuen Lieder“ dahingegeben, um die liebliche Worte sorgfältig nachstudieren zu können.
Leider ist aber der Leierkasten in neuerer Zeit vollständig in die Fußstapfen des Volkstheaters getreten, hat sich fast ausschließlich der Posse zugewandt und ist daher, fast überall, ebenso wie die Bühne, im Stadium des „höheren Blödsinns“ angelangt. […]
An die Humanität und Einsicht aller wahren Volksfreunde appellirend, mache ich auf diesen argen Mißstand nicht blos aufmerksam, sondern füge auch eine dringende Mahnung hinzu. Meines Erachtens ließe sich nämlich unendlich Segensreiches stiften, wenn in jeder Stadt wohlmeinende und befähigte Männer zusammentreten und Vereine gründen möchten, welche sich die Aufgabe stellen: die volkserziehenden Leierkasten, in billigster Weise, immer mit guten und volksthümlich gedichteten Lieder, namentlich nationalen und patriotischen Inhalts zu versehen. Sehr schwierig könnte dies Ziel wahrlich nicht zu erreichen sein – und welch reicher Segen würde daraus erblühen! […]
Gartenlaube Nr. 42/1865, S. 672
Der Leierkasten – ein Phänomen der Medienlandschaft des 19. Jahrhunderts
Bilder von Kriegsinvaliden, die in Berliner Hinterhöfen die Kurbel ihres Leierkastens drehen, lassen leicht übersehen, dass es sich bei der Verbreitung von populären Liedern mit dem Leierkasten bzw. der Drehorgel um ein typisches Phänomen der Medienlandschaft im 19. Jahrhundert handelt. Nicht nur Gassenhauer und Opern- und Operettenmelodien wurden auf diesem Weg schnell verbreitet, sondern das mobilisierende Potenzial der Musik wurde auch für politische Zwecke eingesetzt. Bei diesen mechanische Musikautomaten handelte es sich komplexe Instrumente, die in spezialisierten Werkstätten hergestellt wurden.
Der Leierkasten als „programmiertes“ Musikinstrument „Im Gegensatz zu einer manuell spielbaren Orgel mit einer Klaviatur wird die Ansteuerung der Töne durch einen Programmträger übernommen, der sich in der Spieleinrichtung befindet. Die älteste Form des Programmträgers ist die Stiftwalze. Diese ist seit dem Altertum bekannt. Anfang des 20. Jahrhunderts hat das Lochband bzw. der Lochkarton die Stiftwalze abgelöst. Eine Stiftwalze (meist auswechselbar) kann bis zu zwölf Musikstücke, verbreitet sind sechs bis acht Musikstücke, enthalten. Die Lauflänge des Musikstückes ist durch den Walzenumfang begrenzt. Durch austauschbare Lochbänder oder Lochkartons ist die Spieldauer und die Zahl der spielbaren Lieder fast unbegrenzt.“ (SWR Fernsehen)
Ihr Erwerb war mit so hohen Kosten verbunden, dass Drehorgeln zum Teil gewerblich verpachtet und verliehen wurden. Die Stiftwalzen mit den jeweils aktuellen Liedern mussten erworben werden. Der Verkauf von Flugschriften mit den Liedtexten bildete eine der Einnahmequellen der Drehorgelspieler (Vgl. Grosch 2014, S. 106f.)
Literatur
Grosch, Nils 2014: Die Drehorgel und die Eroberung des öffentlichen Raums durch populäre Musik im 19. Jahrhundert, in: Prügel, Roland (Hrsg.): Geburt der Massenkultur, Nürnberg, S. 106-109
„Es genügt mittelmäßig lesen (oder auch nur mit lauter Stimme buchstabiren) zu können und einige Pfennige in der Tasche zu haben. Selbst die Paar Pfennige sind zu viel, denn wir können alle Tage eine Zeitung geliehen bekommen.
Und diese Zeitung giebt uns in wenigen Minuten ein Bild von der Politik unseres Landes und den politischen Zuständen der benachbarten und entfernten Länder, sie preist uns die Beredsamkeit eines aufrührischen Volkstribuns und bespöttelt die Rede unseres Abgeordneten; sie schmeichelt unserm verborgensten Ehrgeiz oder erregt unseren tiefsten Haß; sie enthüllt erbarmungslos die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der modernen Gesellschaft und die Heucheleien der Civilisation und tischt uns in der Chronik sozusagen als Dessert, die entsetzlichsten Unglücksfälle und grausamsten Verbrechen auf.“
Sehr viele Zeitungen functioniren heute in der Gedanken- und Gefühlswelt des Volkes wie das Gläschen giftigen Schnapses, das der Arbeiten jeden Morgen hinuntergießt, um den unwilligen Hunger zum Schweigen zu bringen und die Qualen des Elends zu verbergen.
Und die gut redigirten und rechtschaffenen Zeitungen, jene, welche sich nicht an die Menge verschachern, jene, welche für die höchsten Klassen der Gesellschaft bestimmt sind, sind für die Nervosität der Leser noch gefährlicher, indem sie dieselben zwingen zu denken, mit sich selbst in’s Klare zu kommen und Antheil zu nehmen an den Geschicken aller Länder und Klassen.“ (S. 100f.)
„Das Land und die Bauern sind die große Sparkasse der menschlichen Gesellschaft, und wie wir von dort das Brod und den Wein herhalten, so fließen uns auch von dort die Kräfte zu, die den fieberhaften Verbrauch von Energie der innerhalb der aufreibenden Mauern der Städte gemacht wird, ersetzen.
Der Fabrikarbeiter hingegen ist der Gährungsstoff der socialen Revolution. Er ist nervös, weil er fast nie reine Luft athment, weil er die wohlthätigen Wirkungen der Sonne und des Lichts nicht genießt, und vor allem, weil das Blatt Papier, das ertäglich liest, ihm in allen Tonarten den Groll und Haß und all die bittern Zweifel, über die er in den langen Stunden der Werkstätt nachgrübelt, wiederholt.“ (S. 138)
„Wie der Genuß verdorbener und schlechter Nahrungsmittel gewisse Krankheiten hervorruft, so erzeugt das Lesen schlechter Zeitungen, die den Proletarier nicht ermuthigen, sondern aufregen, die ihn nicht lehren, die Ungleichheit auszufüllen, sondern ihm eingeben, sie zu messen, die ihm mit lauter Stimme die Krankheit bezeichnen, ohne ihm gleichzeitig ein Mittel zu deren Heilung anzugeben, die Nervosität. Es giebt Zeitungen, die täglich freveln, ohne vom Gesetze dafür belangt zu werden.“ (S. 139 f.) Paul Mantegazza: Das nervöse Jahrhundert, Königsberg 1888
J. P. Hasenclever – Lesegesellschaft (um 1840)
Marcel Proust über Zeitungslesen (1919) „… jenen greulichen und doch wollüstigen Akt, dank dessen alles Unglück und alle Kataklysmen dieser Welt im Verlauf der letzten 24 Stunden, die Schlachten, die 50.000 Männer das Leben kosteten, die Verbrechen, Arbeitsniederlegungen, Bankrotte, Feuersbrünste, Vergiftungen, Selbstmorde, Ehescheidungen, die grausamen Gemütsaufwallungen des Staatsmannes wie des Schauspielers, uns, die wir nicht involviert sind, zur morgendlichen Speise verwandeln, sich auf höchst erregende und stärkende Weise mit dem anempfohlenen Einnehmen einiger Schlucke Milchkaffees verbinden.“ (zitiert nach: Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: suhrkamp 1991, S. 44)
John Orlando Parry – A London Street Scene (1835)
Das Beängstigende der Bilderflucht ist ihre Geschwindigkeit und Zusammenhanglosigkeit
„Täglich mindestens einmal öffnet das Welttheater seinen Vorhang, un der Abonnent des Zeitungsblatts erblickt Mord und Gewalttat, Krieg und Diplomatenränke, Fürstenreisen, Pferderennen, Entdeckungen und Erfindungen, Expeditionen, Liebensverhältnisse, Bauten, Unfälle, Bühnenaufführungen, Spekulationsgeschäfte und Naturerscheinungen; an einem Morgen während des Frühkaffees mehr Seltsamkeiten, als einem Ahnherrn während eines Menschenlebens beschieden waren. […] Das Beängstigende der Bilderflucht ist ihre Geschwindigkeit und Zusammenhanglosigkeit. Bergleute sind verschüttet: flüchtige Rührung. Ein Kind mißhandelt: kurze Entrüstung. Das Luftschiff kommt: ein Moment der Aufmerksamkeit. Am Nachmittag ist alles vergessen, damit Raum im Gehirn geschaffen werde für Bestellungen, Anfragen, Übersichten. Für die Erwägung, das Erinnern, das Nachklingen bleibt keine Zeit.“ Walther Rathenau: Zur Kritik der Zeit, 18. bis 20. Aufl, Berlin 1922, S. 88f. (1. Auflage 1912)
Die Formulierung „Tagespresse als ‚bevorzugtes Haß-Objekt'“ findet sich in: Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet, Frankfurt am Main 2004, S. 184
Abb. Johann Peter Hasenclever: Lesegesellschaft um 1849
Abb. John Orlando Parry, ‘A London Street Scene’, 1835. (Wikimedia Commons)
Die Lesesucht ist eine unmäßige Begierde, seinen eigenen, unthätigen Geist mit den Einbildungen und Vorstellungen Anderer aus deren Schriften vorübergehend zu vergnügen. Man liest, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern nur um zu lesen, man liest das Wahre und das Falsche prüfungslos durch einander, und dieß lediglich mit Neugier ohne eigentliche Wißbegier. Man liest und gefällt sich in diesem behaglich geschäftigen Geistesmüßiggang, wie in einem träumenden Zustande. Die Zeitverschwendung, die dadurch herbeigeführt wird, ist jedoch nicht der einzige Nachtheil, welcher aus der Vielleserrei entsteht. Es wird dadurch das Müssiggehen zur Gewohnheit und bewirkt, wie aller Müssiggang, eine Abspannung der eigenen Seelenkräfte. Diejenigen, welche eine reizbare Einbildungskraft besitzen, und die Zahl dieser dürfte wohl die größere seyn, bilden dieß Seelenvermögen vermittelst der Vielleserei zu Schaden der übrigen Gemüthskräfte in’s Mißgeburtartige aus. Sie gewöhnen sich, alles nur auf die Unterhaltung ihrer Phantasie zu leiten. Sie wollen nur, was diese kitzelt, und halten dieß für das Wichtigste, Wie Viele hat die Lesesucht verdorben, und sie für ihren nochmaligen Stand und Beruf untüchtig gemacht? – Die meisten von den Schriftstellern unserer Zeit geben der Welt in ihren Büchern nur die traurigen Früchte ihres verwahrlosten Geistes und Herzens. Sie bieten nur die unreinen Bilder ihrer Träumerei, aber nicht das Wahre und Schöne, wie’s von Oben stammt. Was sie selbst durch Vielleserei auf schmutziger Bahn gefunden, geben sie anden wieder. Selbst getäuscht und verführt täuschen und verführen sie auch andere. Aus ihren giftigen Quellen strömt viel Elend und Unglück in die Welt hinaus! – Doch den verderblichsten Einfluß hat die Lesesucht auf die Jugend, theils weil in derselben das unerfahrene Herz am empfänglisten für die Eindrücke jeder Art, theils weil die Einbildungskraft ohnehin das thätigste ihrer Seelenvermögen ist. Wirft dann ein unglücklicher Umstand, Schlechtigkeit der Bücherausleiher oder Verkäufer, Wachtsamkeit der Eltern und Erzieher, ein auf Sittenverderbniß berechnetes Buch eines geilen Wollüstlings, in ihre Hand; wird ihre Einbildungskraft mit unanständigen Vorstellungen, mit verschönernden Gemälden viehischer Triebe, mit Verzierungen des Verbrechens vertraut gemacht, – wer mag dann noch das schirmlose Herz retten vor der vergifteten Phantasie? – Sind das die geheimen, nur selten mit dem verdienten Fluche genannten Ursachen der verfrüheten jugendlichen Reife, der Erfahrenheit in den Lastern der Wöllüstlinge und der innersten Ruchlosigkeit bei äußerer scheinbaren Sittigkeit! – Sind das nicht die Ursachen des frühen Hinwelkens der Jugend, ihres geistigen und körperlichen Absterbens unter der Wuth geheimer Sünden! – Was der Eltern Liebe und Sorgfalt, und des Lehrers frommer Eifer Jahre lang baute, reißt nicht selten der Fluch eines einzigen verbrecherischen Buches in einer Stunde nieder.
Universal-Lexicon der Erziehungs- und Unterrichtslehre für ältere und jüngere christliche Volksschullehrer – 2 (1842), S. 105 f.