1842 – Lesesucht: Man liest nur, um zu lesen

Die Lesesucht ist eine unmäßige Begierde, seinen eigenen, unthätigen Geist mit den Einbildungen und Vorstellungen Anderer aus deren Schriften vorübergehend zu vergnügen. Man liest, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern nur um zu lesen, man liest das Wahre und das Falsche prüfungslos durch einander, und dieß lediglich mit Neugier ohne eigentliche Wißbegier. Man liest und gefällt sich in diesem behaglich Lesesuchtgeschäftigen Geistesmüßiggang, wie in einem träumenden Zustande. Die Zeitverschwendung, die dadurch herbeigeführt wird, ist jedoch nicht der einzige Nachtheil, welcher aus der Vielleserrei entsteht. Es wird dadurch das Müssiggehen zur Gewohnheit und bewirkt, wie aller Müssiggang, eine Abspannung der eigenen Seelenkräfte. Diejenigen, welche eine reizbare Einbildungskraft besitzen, und die Zahl dieser dürfte wohl die größere seyn, bilden dieß Seelenvermögen vermittelst der Vielleserei zu Schaden der übrigen Gemüthskräfte in’s Mißgeburtartige aus. Sie gewöhnen sich, alles nur auf die Unterhaltung ihrer Phantasie zu leiten. Sie wollen nur, was diese kitzelt, und halten dieß für das Wichtigste, Wie Viele hat die Lesesucht verdorben, und sie für ihren nochmaligen Stand und Beruf untüchtig gemacht? – Die meisten von den Schriftstellern unserer Zeit geben der Welt in ihren Büchern nur die traurigen Früchte ihres verwahrlosten Geistes und Herzens. Sie bieten nur die unreinen Bilder ihrer Träumerei, aber nicht das Wahre und Schöne, wie’s von Oben stammt. Was sie selbst durch Vielleserei auf schmutziger Bahn gefunden, geben sie anden wieder. Selbst getäuscht und verführt täuschen und verführen sie auch andere. Aus ihren giftigen Quellen strömt viel Elend und Unglück in die Welt hinaus! – Doch den verderblichsten Einfluß hat die Lesesucht auf die Jugend, theils weil in derselben das unerfahrene Herz am empfänglisten für die Eindrücke jeder Art, theils weil die Einbildungskraft ohnehin das thätigste ihrer Seelenvermögen ist. Wirft dann ein unglücklicher Umstand, Schlechtigkeit der Bücherausleiher oder Verkäufer, Wachtsamkeit der Eltern und Erzieher, ein auf Sittenverderbniß berechnetes Buch eines geilen Wollüstlings, in ihre Hand; wird ihre Einbildungskraft mit unanständigen Vorstellungen, mit verschönernden Gemälden viehischer Triebe, mit Verzierungen des Verbrechens vertraut gemacht, – wer mag dann noch das schirmlose Herz retten vor der vergifteten Phantasie? – Sind das die geheimen, nur selten mit dem verdienten Fluche genannten Ursachen der verfrüheten jugendlichen Reife, der Erfahrenheit in den Lastern der Wöllüstlinge und der innersten Ruchlosigkeit bei äußerer scheinbaren Sittigkeit! – Sind das nicht die Ursachen des frühen Hinwelkens der Jugend, ihres geistigen und körperlichen Absterbens unter der Wuth geheimer Sünden! – Was der Eltern Liebe und Sorgfalt, und des Lehrers frommer Eifer Jahre lang baute, reißt nicht selten der Fluch eines einzigen verbrecherischen Buches in einer Stunde nieder.

Universal-Lexicon der Erziehungs- und Unterrichtslehre für ältere und jüngere christliche Volksschullehrer – 2 (1842), S. 105 f.

Fotografie im Dienste der Eugenik

In der Diskussion über das Buch „Deutschland schafft sich ab“ wird – mit Recht – der Vorwurf erhoben, Thilo Sarrazins vertrete die Ansicht, die Schichtung einer Gesellschaft  beruhe überwiegend auf der  „natürlicher biologischer Auslese“ („Welch hoffnungsloses Menschenbild!“ / „Die Gene sind schuld“).  In diesem Zusammenhang taucht der Begriff Eugenik und damit auch der Name des britischen Naturforschers und Schriftsteller Francis Galton (1822 – 1911) auf. Nach der „Enclyclopedia Britannica“ wurde der Begriff Eugenik 1884 zum ersten Mal von Galton benutzt.

Mit Hilfe der Fotografie wollte Galton gemeinsame Merkmale von Ethnien und Berufsgruppen, aber auch den Typus des Verbrechers herausarbeiten.   Er benutzte dafür sogenannte Komposit-Porträts.  Dabei wurden gleich große Porträts von Angehörigen einer Gruppe – Offiziere, Verbrecher, Verwandte – nacheinander auf dieselbe Platte aufgenommen, so dass ein „Idealportrait“ entsteht, das die Gesichtszüge aller Beteiligten vereint. Durch die Übereinanderschichtung dieser Porträts sollten sich die individuellen Besonderheiten verwischen und gemeinsame Merkmale eines „Typus“ hervortreten.
Durch die  Komposit-Portäts sollte der statistische Durchschnitt innerhalb einer Personengruppe fotografisch darstellbar werden. Galtons Ziel war es, die Reinheit der „angelsächsischen Rasse“ zu erhalten. Deshalb wollte er die Gruppen identifizieren, die seiner Ansicht nach von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden müssten, damit sie nicht weiter zur Degeneration des englischen Volkskörpers beitragen könnten.
Durch das im 19. Jahrhundert als naturwissenschaftlich exakt geltende  Medium der Fotografie  sollte über die Methode des  Komposit-Porträts nicht nur die Vererbbarkeit von kriminellen Anlagen anhand von äußerlichen Merkmalen nachgewiesen werden, sondern es ging auch um die Konstruktion von Rassenunterschieden im Sinne von Höher- bzw. Minderwertigkeit

Galton stand nicht alleine mit dem Versuch, „steng naturwissenschaftlich“ aus äußeren Mermalen auf Charaktereigenschaften und vererbte Anlagen schließen zu wollen. Zu nennen wäre unter anderem Cesare Lombroso ( 1835 bis 1909), ein italienischer Arzt und Professor für Medizin und Psychiatrie. Nach Lombroso sind bestimmte Schädelformen oder z. B. zusammengewachsene Augenbrauen ein Hinweis auf eine niedrige und gewalttätige Entwicklungsstufe, die auf tief verwurzelte Anlagen zum Verbrecher hindeutet, die auch durch die Aneignung sozialer Verhaltensweisen nicht überdeckt werden können.

Vor dem Hintergrund dieser anthroplogischen Ansätze, Menschen nach Äuerßlichkeiten zu klassifizieren, verliert auch das seit dem 18. Jahrhundert aufkommende Interesse am Zeichnen und Sammeln von Silhouetten etwas von seiner biedermeierlichen Unschuld. Das „Schnellporträt“ Silhouette wird so nicht nur als Vorläufermedium der Fotografie mediengeschichtlich interessant.

Medienpädagogische Warnung an Freunde der Großtechnologien

INTEL PRODUCTS ARE NOT INTENDED FOR USE IN MEDICAL, LIFE SAVING, OR LIFE SUSTAINING APPLICATIONS

14. Juli 2010 – Reuters meldet: Der weltgrößte Chiphersteller Intel hat mit seinen Bilanzdaten die Märkte positiv überrascht.

Fehler in der Arithmetik von Computern

Besonders der endliche Speicher des Computers ist die Quelle ernsthafter und tiefer Probleme. Denn Computer sind ‚mathematische‘ Werkzeuge; sie dienen als Werkzeug für mathematische Berechnungen, für die mathematische Modellbildung, für Simulationsverfahren aller Art. In der Mathematik gehört jedoch der Umgang mit unendlichen Mengen, insbesondere mit der Menge der reellen Zahlen zum Alltag. Und solche Mengen lassen sich nicht oder nur sehr schwer im Computer darstellen. Die klassische Software (Programmiersprachen, Anwendersoftware) verwendet meist die ‚Gleitkomma-Technik‘ zur Darstellung von reelen Zahlen  […] Jede in der Realität vorkommende reelle Zahl muss bei der Übertragung in den Computer einer dieser Gleitkommazahlen zugeordnet werden. […]
Man kann den Rechnungen auf der Basis der Gleitkommazahlen, streng genommen, nicht rauen; dennoch wird es tagtäglich milliardenfach getan. Und natürlich wird der Mikroprozessor, vor dessen Benutzung Herstellerfirmen [wie Intel warnen], auch in Situationen eingesetzt, wo das Leben und die Gesundheit von Menschen vom ‚richtigen‘ Funktionieren des Prozessors abhängt.

Ziegenbalg, Jochen; Ziegenbalg, Oliver; Ziegenbalg Bernd [2016]: Algorithmen von Hammurapi bis Gödel. Springer Spectrum: Wiesbaden; S. 191f.

Fehlerfreiheit
In Spezialfällen ist ein Beweis der Fehlerfreiheit eines Programms möglich. Insbesondere in Bereichen, in denen der Einsatz von Software mit hohen finanziellen, wirtschaftlichen oder menschlichen Risiken verbunden ist, wie z. B. bei militärisch oder medizinisch genutzter Software oder in der Luft- und Raumfahrt, verwendet man zudem eine (formale) Verifizierung genannte Methode, bei der die Korrektheit einer Software formal-mathematisch nachgewiesen wird. Dieser Methode sind allerdings wegen des enormen Aufwands enge Grenzen gesetzt und sie ist daher bei komplexen Programmen praktisch unmöglich durchzuführen (siehe auch Berechenbarkeit). Allerdings gibt es mittlerweile Werkzeuge, die diesen Nachweis laut eigenen Angaben zumindest für Teilbereiche (Laufzeitfehler) schnell und zuverlässig erbringen können.

 

Darwin-Jahr: Stammbaum oder Busch, Netz, Koralle?

Der Stammbaum – eine in Adelskreisen übliche Darstellung der Verwandschaftsbeziehungen – hat sich als scheinbar intuitiv verständliches Bild für den Ablauf der Evolution etabliert. Welche Botschaften diese Form der Visualisierung transportiert, zeigt sich z. B. an der von Ernst Haeckel (1874) gewählten Darstellungsform.

Sein Stammbaum ist deutlich als Eiche zu erkennen, an deren breitem Fuß „befinden sich Amöben und einfachste Urlebewesen. Über Würmer, Fische und Amphibien strebt der Stamm in die Höhe zu den Säugetieren, bis nach ganz oben in den Baumwipfel zum Menschen als Krone der Schöpfung.“ (Rögener 2009)

In dieser Darstellung wird aus der „Evolutionsgeschichte eine Fortschrittsgeschichte von aufsteigender Stufenfolge. Aus naturwissenschaftlicher Sicht gibt es keinen Grund die Säugetiere und den Mensch als Höhe- und Endpunkt der Evolution zu sehen, sind doch Insektenarten durchaus erfolgreicher.

Für Darwin hatte die Evolution kein Ziel: „Darwin selbst verglich die Abfolge der Arten mal mit einem Baum, mal mit einer Koralle. Andere Forscher favorisierten Netze, Flüsse, kreisförmige Diagramme oder waagerecht verzweigte Strichzeichnungen.“

Neben dem immer noch populären „Stammbaum“ gibt es eine Reihe anderer Darstellungsformen für den Verlauf der Evolution, z. B. kreisförmige Darstellungen, bei denen es keine Rangordnung von unten nach oben, sondern nur ein Auseinanderstreben und Verzweigen der Arten gibt. Auch für den „horizontalen Gentransfer der Bakterien“ passt das Denkmuster vom „Baum der Evolution“ nicht.

Rögener, Wiebke: Der Stammbaum war einmal – sueddeutsche.de 22.06.2009

http://www.sueddeutsche.de/wissen/365/472885/text/9/

Vgl. auch Voss, Julia: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 – 187, Frankfurt am Main 2007, S. 160 ff;