Die Tagespresse als „bevorzugtes Haß-Objekt“ der Kulturkritik

Zeitungslektüre als Nervengift

„Es genügt mittelmäßig lesen (oder auch nur mit lauter Stimme buchstabiren) zu können und einige Pfennige in der Tasche zu haben. Selbst die Paar Pfennige sind zu viel, denn wir können alle Tage eine Zeitung geliehen bekommen.das-nervose-zeitalter
Und diese Zeitung giebt uns in wenigen Minuten ein Bild von der Politik unseres Landes und den politischen Zuständen der benachbarten und entfernten Länder, sie preist uns die Beredsamkeit eines aufrührischen Volkstribuns und bespöttelt die Rede unseres Abgeordneten; sie schmeichelt unserm verborgensten Ehrgeiz oder erregt unseren tiefsten Haß; sie enthüllt erbarmungslos die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der modernen Gesellschaft und die Heucheleien der Civilisation und tischt uns in der Chronik sozusagen als Dessert, die entsetzlichsten Unglücksfälle und grausamsten Verbrechen auf.“

Sehr viele Zeitungen functioniren heute in der Gedanken- und Gefühlswelt des Volkes wie das Gläschen giftigen Schnapses, das der Arbeiten jeden Morgen hinuntergießt, um den unwilligen Hunger zum Schweigen zu bringen und die Qualen des Elends zu verbergen.
Und die gut redigirten und rechtschaffenen Zeitungen, jene, welche sich nicht an die Menge verschachern, jene, welche für die höchsten Klassen der Gesellschaft bestimmt sind, sind für die Nervosität der Leser noch gefährlicher, indem sie dieselben zwingen zu denken, mit sich selbst in’s Klare zu kommen und Antheil zu nehmen an den Geschicken aller Länder und Klassen.“ (S. 100f.)

„Das Land und die Bauern sind die große Sparkasse der menschlichen Gesellschaft, und wie wir von dort das Brod und den Wein herhalten, so fließen uns auch von dort die Kräfte zu, die den fieberhaften Verbrauch von Energie der innerhalb der aufreibenden Mauern der Städte gemacht wird, ersetzen.
Der Fabrikarbeiter hingegen ist der Gährungsstoff der socialen Revolution. Er ist nervös, weil er fast nie reine Luft athment, weil er die wohlthätigen Wirkungen der Sonne und des Lichts nicht genießt, und vor allem, weil das Blatt Papier, das ertäglich liest, ihm in allen Tonarten den Groll und Haß und all die bittern Zweifel, über die er in den langen Stunden der Werkstätt nachgrübelt, wiederholt.“ (S. 138)

„Wie der Genuß verdorbener und schlechter Nahrungsmittel gewisse Krankheiten hervorruft, so erzeugt das Lesen schlechter Zeitungen, die den Proletarier nicht ermuthigen, sondern aufregen, die ihn nicht lehren, die Ungleichheit auszufüllen, sondern ihm eingeben, sie zu messen, die ihm mit lauter Stimme die Krankheit bezeichnen, ohne ihm gleichzeitig ein Mittel zu deren Heilung anzugeben, die Nervosität. Es giebt Zeitungen, die täglich freveln, ohne vom Gesetze dafür belangt zu werden.“ (S. 139 f.)
Paul Mantegazza: Das nervöse Jahrhundert, Königsberg 1888

Johann Peter Hasenclever_Lesegesellschaft um 1849
J. P. Hasenclever – Lesegesellschaft (um 1840)

Marcel Proust über Zeitungslesen (1919)
„… jenen greulichen und doch wollüstigen Akt, dank dessen alles Unglück und alle Kataklysmen dieser Welt im Verlauf der letzten 24 Stunden, die Schlachten, die 50.000 Männer das Leben kosteten, die Verbrechen, Arbeitsniederlegungen, Bankrotte, Feuersbrünste, Vergiftungen, Selbstmorde, Ehescheidungen, die grausamen Gemütsaufwallungen des Staatsmannes wie des Schauspielers, uns, die wir nicht involviert sind, zur morgendlichen Speise verwandeln, sich auf höchst erregende und stärkende Weise mit dem anempfohlenen Einnehmen einiger Schlucke Milchkaffees verbinden.“ (zitiert nach: Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: suhrkamp 1991, S. 44)

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John Orlando Parry – A London Street Scene (1835)
 

Das Beängstigende der Bilderflucht ist ihre Geschwindigkeit und Zusammenhanglosigkeit

„Täglich mindestens einmal öffnet das Welttheater seinen Vorhang, un der Abonnent des Zeitungsblatts erblickt Mord und Gewalttat, Krieg und Diplomatenränke, Fürstenreisen, Pferderennen, Entdeckungen und Erfindungen, Expeditionen, Liebensverhältnisse, Bauten, Unfälle, Bühnenaufführungen, Spekulationsgeschäfte und Naturerscheinungen; an einem Morgen während des Frühkaffees mehr Seltsamkeiten, als einem Ahnherrn während eines Menschenlebens beschieden waren. […] Das Beängstigende der Bilderflucht ist ihre Geschwindigkeit und Zusammenhanglosigkeit. Bergleute sind verschüttet: flüchtige Rührung. Ein Kind mißhandelt: kurze Entrüstung. Das Luftschiff kommt: ein Moment der Aufmerksamkeit. Am Nachmittag ist alles vergessen, damit Raum im Gehirn geschaffen werde für Bestellungen, Anfragen, Übersichten. Für die Erwägung, das Erinnern, das Nachklingen bleibt keine Zeit.“
Walther Rathenau: Zur Kritik der Zeit, 18. bis 20. Aufl, Berlin 1922, S. 88f. (1. Auflage 1912)

Die Formulierung „Tagespresse als ‚bevorzugtes Haß-Objekt'“ findet sich in: Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet, Frankfurt am Main 2004, S. 184
Abb. Johann Peter Hasenclever: Lesegesellschaft um 1849
Abb. John Orlando Parry, ‘A London Street Scene’, 1835. (Wikimedia Commons)

1842 – Lesesucht: Man liest nur, um zu lesen

Die Lesesucht ist eine unmäßige Begierde, seinen eigenen, unthätigen Geist mit den Einbildungen und Vorstellungen Anderer aus deren Schriften vorübergehend zu vergnügen. Man liest, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern nur um zu lesen, man liest das Wahre und das Falsche prüfungslos durch einander, und dieß lediglich mit Neugier ohne eigentliche Wißbegier. Man liest und gefällt sich in diesem behaglich Lesesuchtgeschäftigen Geistesmüßiggang, wie in einem träumenden Zustande. Die Zeitverschwendung, die dadurch herbeigeführt wird, ist jedoch nicht der einzige Nachtheil, welcher aus der Vielleserrei entsteht. Es wird dadurch das Müssiggehen zur Gewohnheit und bewirkt, wie aller Müssiggang, eine Abspannung der eigenen Seelenkräfte. Diejenigen, welche eine reizbare Einbildungskraft besitzen, und die Zahl dieser dürfte wohl die größere seyn, bilden dieß Seelenvermögen vermittelst der Vielleserei zu Schaden der übrigen Gemüthskräfte in’s Mißgeburtartige aus. Sie gewöhnen sich, alles nur auf die Unterhaltung ihrer Phantasie zu leiten. Sie wollen nur, was diese kitzelt, und halten dieß für das Wichtigste, Wie Viele hat die Lesesucht verdorben, und sie für ihren nochmaligen Stand und Beruf untüchtig gemacht? – Die meisten von den Schriftstellern unserer Zeit geben der Welt in ihren Büchern nur die traurigen Früchte ihres verwahrlosten Geistes und Herzens. Sie bieten nur die unreinen Bilder ihrer Träumerei, aber nicht das Wahre und Schöne, wie’s von Oben stammt. Was sie selbst durch Vielleserei auf schmutziger Bahn gefunden, geben sie anden wieder. Selbst getäuscht und verführt täuschen und verführen sie auch andere. Aus ihren giftigen Quellen strömt viel Elend und Unglück in die Welt hinaus! – Doch den verderblichsten Einfluß hat die Lesesucht auf die Jugend, theils weil in derselben das unerfahrene Herz am empfänglisten für die Eindrücke jeder Art, theils weil die Einbildungskraft ohnehin das thätigste ihrer Seelenvermögen ist. Wirft dann ein unglücklicher Umstand, Schlechtigkeit der Bücherausleiher oder Verkäufer, Wachtsamkeit der Eltern und Erzieher, ein auf Sittenverderbniß berechnetes Buch eines geilen Wollüstlings, in ihre Hand; wird ihre Einbildungskraft mit unanständigen Vorstellungen, mit verschönernden Gemälden viehischer Triebe, mit Verzierungen des Verbrechens vertraut gemacht, – wer mag dann noch das schirmlose Herz retten vor der vergifteten Phantasie? – Sind das die geheimen, nur selten mit dem verdienten Fluche genannten Ursachen der verfrüheten jugendlichen Reife, der Erfahrenheit in den Lastern der Wöllüstlinge und der innersten Ruchlosigkeit bei äußerer scheinbaren Sittigkeit! – Sind das nicht die Ursachen des frühen Hinwelkens der Jugend, ihres geistigen und körperlichen Absterbens unter der Wuth geheimer Sünden! – Was der Eltern Liebe und Sorgfalt, und des Lehrers frommer Eifer Jahre lang baute, reißt nicht selten der Fluch eines einzigen verbrecherischen Buches in einer Stunde nieder.

Universal-Lexicon der Erziehungs- und Unterrichtslehre für ältere und jüngere christliche Volksschullehrer – 2 (1842), S. 105 f.

Ein Sommerlochbeitrag zur Entschleunigung

1887 – KRITIK AM STILLEN LESEN

Während heute nur noch in wenigen Situationen „laut gelesen“ wird, war dies bis ins 19. Jahrhundert hinein die übliche Form des Lesens. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts attackierte der einflussreiche Germanist Heinrich Rudolf Hildebrand* in seinem Buch „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt“ das „stille Lesen“ oder „Augenlesen“ heftig:
„…dieß rasche Lesen, d.h. Durchjagen des Gedankens durch oder über eine Uebermenge von Einzelheiten, Begriffen, Vorstellungen, Gedankenverbindungen hin (um von den Empfindungen nicht zu reden), dieß jagende Lesen macht ein reines Auffassen so zu sagen mechanisch unmöglich, denn die Anschauung und Empfindung, die doch allein die wirkliche Betheiligung des Geistes und der Seele bedingen und darstellen, können nicht folgen, weil sie ein Verweilen brauchen, sie ziehen sich erlahmend zurück, verkriechen sich in eine Art Schlummerzustand; wer so list, ist wie Einer, der mit dem Schnellzug z.B. durch einen schönen Wald fährt und dabei eigentlich weder vom Walde einen Begriff bekommt noch auch die Bäume wirklich sieht, es verschwimmt ihm Alles, das Ganze wie das Einzelne in wesenlosen Schatten. Das rasche Augenlesen hilft nebst anderen Einflüssen der Zeit unser gesundes Empfinden und Denken zernagen, an dem doch aller Fortschritt hängt, alle Rettung aus den schweren Gefahren unsrer Zeit.  (Hildebrand 1887, S. 44 f.)

* Hildebrand (1824 – 1894) war Professor für Deutsche Sprache und Deutsche Literatur an der Leipziger Universität. Unter anderem arbeitete er seit 1852 am Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm mit, dessen Herausgabe er .nach dem Tod Jakob Grimms im Jahr 1863 übernahm.