Medialitätsbewusstsein (1): Mündlichkeit

Medialität lässt sich nicht absolut, sondern nur an der Differenz zwischen zwei medialen Formen beschreiben. Dies zeigt sich im Vergleich zwischen gesprochener Sprache und phonetischer Schrift.
So gilt im Rahmen der Strafprozessordnung in unserer Gesellschaft der Grundsatz der Mündlichkeit. Alles, was während der Hauptverhandlung geschieht, also die Vernehmung des Angeklagten, die Beweisaufnahme und die Plädoyers, muss mündlich erfolgen. Daraus spricht ein großer Vorbehalt gegen alle Aufzeichnungsmedien. Sie selektieren und nehmen den Richtern ihre Autonomie zur Selektion, nichts anderes soll gelten als ihre eigene Wahrnehmung.

„Eine Angeklagte lässt aussagen“

Diese Überschrift aus der Süddeutschen Zeitung vom 11. Dezember 2015 bezieht sich auch die Entwicklung im NSU-Prozeß gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe. Nach 249 Verhandlungstagen bricht Zschäpe ihr Schweigen bzw. lässt eine Stellungnahme von ihrem Anwalt vorlesen.

Tönendes Schweigen SZ 11_12_2015 S_6

 

 

„Anerkannt ist die sogenannte ‚Verteidigererklärung‘, in der der Verteidiger als Verteidiger eine Erklärung abgibt. Anerkannt ist auch die Erklärung des Verteidigers, wie im Fall Zschäpe. Der Erkenntniswert einer solchen Erklärung, die der Verteidiger im Namen Zschäpes verliest, ist freilich geringer als dann, wenn sie ihre Erklärung selbst vorgetragen hätte. Warum? Die Mimik, die Gestik, der Habitus, mit der eine Aussage vorgetragen wird, spielt eine Rolle, wenn es um die Beurteilung dessen geht, ob und wie plausibel das Dargelegte ist; das alles entfällt bei der bloßen Verlesung durch den Verteidiger. […] Die Hauptverhandlung ist ein mündliches, kein schriftliches Verfahren. Schon das Wort ‚Aussage‘ besagt, warum es geht: Um mündliche Befragung und mündliche Antworten, nicht um den Austausch von Schriftstücken. […] Würde die mündliche Kommunikation vor Gericht durch eine schriftliche ersetzt, könnte sich das Gericht keinen Eindruck vom Aussageverhalten der Angeklagten mehr machen.“ (Prantl 2015)

„Wachtmeister Studer“ Kapitel 16 „Liebe vor Gericht“ Wachtmeister Studer

Der Untersuchungsrichter stockte. Studer schneuzte sich und blies Trompetensignale, unterbrach sie, nieste, aber das Niesen gemahnte an ein unterdrücktes Kichern. Schließlich beruhigte er sich und fragte mit tränenden Augen:
„Hat das Schlumpfli wortwörtlich so gesprochen? Ich meine, Sätze wie: ‚allwo ich ihn gezwungen habe, mir seine Brieftasche auszuliefern…‘ und: ‚…was mich dazu bestimmt hat, ihn nachher mit einem Schusse niederzustrecken…‘ Hat er das wirklich so gesagt?‘
Der Untersuchungsrichter war beleidigt.
„Sie wissen doch, Wachtmeister“, sagte er streng, „daß es uns obliegt, die Aussagen zu formulieren. Wir können doch nicht das ganze Gerede eines Angeklagten stenographieren. Die Akten würden zu Bänden anwachsen …“
„Ja, sehen Sie, Herr Untersuchungsrichter, das scheint mir immer ein großer Fehler. Ich würde die Worte der Angeklagten sowohl, als auch der Zeugen, nicht nur stenographieren, sondern die Worte auf Platten aufnehmen lassen. Man bekäme dann jeden Tonfall heraus…“ (Glauser 1989, S. 186)

Videovernehmung kindlicher Zeugen

Die Vorteile einer Videodokumentation liegen dabei in Folgendem: Sowohl die Antworten als auch die Fragen – suggestiv oder offen – werden festgehalten. Das gesamte Aussageverhalten des Zeugen – insbesondere das nonverbale – wird authentisch und plastisch wiedergegeben, darunter Pausen in der Antwort, Stottern, nervöse Bewegungen, Erröten und Schwitzen. Die Aufzeichnung gewährleistet eine detailgenauere und konsistentere Information.“ (Scheumer 2007, S. 31f.)

„So geht der Regierungsentwurf der CDU/FDP davon aus, dass Bild-Ton Aufzeichnungen „dauerhaft Aussageinhalt und Aussageverhalten“ fixieren und „deren grundsätzlich unbegrenzte Reproduzierbarkeit“ ermöglichen, wobei „dem Einsatz der Videotechnologie verfahrensentscheidende Bedeutung“ zukommt „angesichts der hohen Anforderungen der Rechtsprechung an die Überprüfung der Validität einer kindlichen Zeugenaussage in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs und der Erkenntnisse der Aussagepsychologie, die der Entstehungsgeschichte der Beschuldigung und der Entwicklung der Aussage des Kindes erhebliche Bedeutung beimessen.“ (Scheumer 2007, S. 33)

Literatur
Glauser, Friedrich (1989): Wachtmeister Studer. Zürich: Diogenes
Prantl, Heribert 2015: Eine Angeklagte lässt aussagen: Wie sich Beate Zschäpes Einlassung auf den Fortgang des NSU-Prozessen auswirkt. In: Süddeutsche Zeitung vom 11.12.2015, S. 6
Scheumer, Maike (2007): Videovernehmung kindlicher Zeugen. Zur Praxis des Zeugenschutzgesetzes. Göttinger Studien zu den Kriminalwissenschaften Bd. 2. Göttingen: Universitätsverlag

 

 

1904 – Überwachung mit Hilfe der Stenografie

Polizeisergeant Fritz Pohle – Kassierer des Stenographenvereins in Quedlinburg – „wird infolge seiner tüchtigen Befähigung auf dem Gebiet der Stenographie seit langer Zeit stets zur Überwachung und Fixierung der sozialdemokratischen Versammlungen kommandiert und hatte in dieser Beziehung namentlich auch vor den Reichtstagswahlen in ausgedehntem Maße Gelegenheit, seine Fähigkeiten zu erproben.“
Agitator und Stenograph
In der alten Kaiser- und Blumenstadt Quedlinburg, der Eingangspforte zu den waldigen sagenumsponnenen Harzbergen und dem wildromatischen Bodetal, hat unser System* und damit die Stenographie überhaupt einen schönen moralischen Erfolg davongetragen. In einer am 1. November v. Js. im hiesigen sozialdemokratischen Restaurant ‚Vorwärts‘ abgehaltenen Volksversammlung hatte der sozialdemokratische Schriftsteller und Agitator Albert aus Magdeburg in einem Vortrage über die Bedeutung des Ausfalls der Stadtverordnetenwahl für die Arbeiter gegen die hiesige Stadtverwaltung Anklagen geschleudert, die zum größten Teil auf Unwahrheiten und Ungenauigkeit beruhen. Aufgrund des von dem Polizeisergeanten Fritz Pohle (Kassierer des hiesigen Stenographenvereins) aufgenommenen stenographischen Protokolls wurde dann in der Stadtverordnetensitzung am 23. November auf Antrag des Magistrats der städtischen Polizeiverwaltung vom Stadtverordnetenkollegium die Ermächtigung erteilt, gegen die in jener Volksversammlung gegen die Stadtbehörden ausgesprochenen Verdächtigungen und Beleidigungen strafrechtlich vorzugehen und den Urheber derselben vor Gericht zu ziehen.“
(H. Behle, Journalist in Quedlinburg – Der Deutsche Stenograph 1904, S. 30f.)

*„Der Deutsche Stenograph“ war die Zeitschrift des Stenographen-Verbandes Stolze-Schrey.

Auflösung einer Arbeiterversammlung_Illustrirte Zeitung 1890, S. 180
1890 – Polizeiliche Auflösung einer Arbeiter-Wahlversammlung in Berlin

Vor den Wahlen
„Ein unvermeidliches Uebel aller Parteiversammlungen ist der Ruhestörer. Erscheint er nur vereinzelt auf der Bildfläche, so ist er bald unschädlich gemacht, schwieriger gestaltet sich der Reinigungsproceß, wenn die verneinenden Geister rottenweise auftreten; dann geht leider mit der Ausübung des Hausrechts ein gut Stück Zeit verloren, oft genug endet die Versammlung infolge des künstlich herbeigeführten Tumultes mit polizeilicher Auflösung.“
Aus: Illustrirte Zeitung Nr. 2434 vom 22. Februar 1890, S. 180 und 181

 

1826 – Vom Nutzen der Wandtafel

Kirchen- und Schulrath Gottlob Leberecht Schulz zum Nutzen der Wandtafel

1826  Nutzen der Wandtafel Pictura Paedagogica Online

*Glaubt dem Erfahrenen!
Für unumgänglich nothwendig halte ich diese nicht. Sie ist,
wenn sie gut und dauerhaft seyn und in gehörigem Stand erhalten werden soll, zu theuer und wird im Wesentlichen durch Wandtabellen (§28. Anm. 2.), auf welchen der Leseübungsstoff schon geordnet vorgegeben ist, ersetzt. Die wenigsten Lehrer (experto credite!)* wissen gehörig mit ihr umzugehen, verderben viele Zeit mit den Zusammensetzen und Wegnehmen der Buchstaben und mißbrauchen sie wohl gar zu unnützen Kunststücken.

Quelle: Schulze, Gottlob Leberecht: Die vorzüglichsten Gegenstände des Landschulwesens und der Verbesserung desselben : mit besonderer Rücksicht auf die Königl. Sächs. Oberlausitz  – Budissin 1826
Nach: Pictura Paedagogica Online

Telefonpoesie aus dem Haus AT&T

1910
[…] Aladins Lampe brachte ihren Beisitzer im Nu von Ort zu Ort.1910 Ad American Telephone Telegraph ATT Bell Everyday Magic
Dies war vor tausend Jahren – und die Lampe gab es nur im Märchen. Aber die Geschichte war so wunderbar, dass sie bis heute erzählt wird.
Bells Telefon ist bei weitem wunderbarer – und es existiert wirklich.
Der Traum von Jahrhunderten wird wahr. Im Büro, in der Wohnung steht es, und sieht so alltäglich aus wie Aladins Lampe.
Durch das Telefon wird die menschliche Stimme – der getreueste Ausdruck von Persönlichkeit, Eigenschaften und Charakter –  sofort und genau von einem Ort zum anderen übertragen.
Alle anderen Kommunikationsmittel sind im Vergleich dazu kalt und farblos. Nur durch das Telefon wird die menschliche Qualität der menschlichen Stimme über die Begrenzungen der natürlichen Hörfähigkeit hinaus übertragen. […]

1911
[…] Noch vor einer Generation war die Reichweite der Sprache sehr begrenzt. Als Ihr Großvater ein junger Mann war, konnte man seine Stimme an stillen Bell Your Telephon Horizon 1911Tagen vielleicht über eine Meile hinweg hören. Heute dagegen hat sich das grundlegend geändert. Ein Gespräch über 2000 Meilen ist ein alltägliches Ereignis. Wollte man über diese Distanz hinweg sehen, müsste man ein Teleskop auf einer Plattform in ungefähr 560 Meilen Höhe aufbauen. So wie der Schatten einem Menschen folgt, begleitet ihn der Horizont der Telefonkommunikation. Reist man von einer Küste zur anderen, folgt der Telefonhorizont. Wo immer man sich befindet, bleibt man im Mittelpunkt seiner telefonischen Nachbarschaft. […]

1913

Telefonische Türen der Nation_Scientific American 20_12_1913_S 481Immer, wenn Sie den Telefonhörer aufnehmen, öffnen sich für Sie die Türen der Nation.

Wo immer Sie sein mögen, können Sie eine Vielzahl von Menschen mit ihrer Stimme erreichen. So einfach, wie man sich in einem Zimmer unterhält, können Sie Ihre Gedanken und Worte durch die offenen Türen des Bell Systems zu nahen oder entlegene Bundesstaaten und Orten schicken.

Zu jeder Tages- oder Nachtzeit können Sie sofort und direkt mit jedem, den Sie ausgewählt haben, sprechen, gleichgültig, ob er eine Meile, hundert oder zweitausend Meilen entfernt ist.

Dies wird möglich, weil 7.500.000 Telefone, in jedem Teil unseres Landes , über das Bell System miteinander verbunden sind …

1915
Auf den magischen Webstühlen des Bell Systems werden täglich zehn Millionen Bell Weavers of Speech 1915von telefonischen Botschaften zu einem fantastischen Stoff verwoben, der die zahllosen Aktivitäten eines fleißigen Volkes abbildet.

Tag und Nacht bewegen unsichtbare Hände die Weberschiffchen hin und her, weben aus den Gedanken von Männern und Frauen Muster, die – könnte man sie wie einen Teppich betrachten – eine dramatische Geschichte von unseren Geschäften und unserem gesellschaftlichen Leben erzählen.
Die Weberinnen sind die 70.000 Telefonistinnen von Bell. Unsichtbar für die Teilnehmer sitzen diese Weberinnen der Sprache leise an ihren Klappenschränken, verbinden schnell und geschickt die Leitungen, über die die menschliche Stimme über das Land in alle Richtungen geführt wird. […]

1923
Könnte das Telefonbuch in der Hand des Teilnehmers stündlich überarbeitet Bell Crossroads of Conversation 1923werden, brauchte man keine Telefonauskunft. Aber ein Telefonbuch enthält nie alle Teilnehmer. Selbst während das Telefonbuch gedruckt und gebunden wird, kommt es zu Tausenden von Änderungen. Neue Teilnehmer müssen ins Verzeichnis aufgenommen werden. Alte Teilnehmer ziehen geschäftlich oder privat an einen anderen Ort.
Auch wenn ihre Namen nicht im Telefonbuch stehen, müssen diese Teilnehmer über die Schnellstraßen der Kommunikation für alle anderen Teilnehmer erreichbar sein. Zur Ergänzung der gedruckten Seiten muss es daher an den Kreuzungspunkten der Gespräche Führer geben.
Das sind die Telefonistinnen in der Auskunft. Sie werden für diese Aufgabe aufgrund ihrer Schnelligkeit und Genauigkeit, ihrer Höflichkeit und Intelligenz ausgewählt. An ihrem Arbeitsplatz sind sie mit den Vermittlungszentralen verbunden. Sie entlasten die normalen Telefonistinnen davon, tausende von Fragen nach Telefonnummmern zu beantworten, wodurch sie in ihrer Arbeit behindert würden.

1911 – Lieber Gesangs- als Klavierunterricht

KlavierspielenKlavierspiel. Man nennt es auch eine ‚moderne Seuche‘, da es in alle Schichten der Bevölkerung eingedrungen ist, und da es leider von Unbegabten ebenso gepflegt wird, wie von Begabten. Nervöse Personen werden durch übermäßige Ausübung derselben noch reizbarer, als sie schon sind; es ist daher nur mit Vorsicht zu üben und schwachen Mädchen mit erregtem Herzen, Blutarmut und Neigung zu starken Menstruationen ganz zu verbieten. Anders verhält es sich mit dem Singen. Mäßig betrieben kräftigt es den Organismus und leitet das Blut vom Becken ab. Man lasse also schwächliche Mädchen eher Gesangsunterricht nehmen, als Klavierspiel beginnen.

Fischer-Dückelmann, Anna: Die Frau als Hausärztin. Ein ärztliches Nachschlagebuch der Gesundheitspflege und Heilkunde in der Familie. Stuttgart 1911, S. 699f.

Nachrichtenverkehr – Das Fahrrad im Postdienste

Die Gartenlaube H_25_1898

Die Geschwindigkeit der Telegrafie führte zu Übermittlungslücken. Darauf kommt Woldemars Tante in Fontanes 1897/98 publizierten Roman „Der Stechlin“ zu sprechen: „‚Ich habe dein Telegramm‘, sagte die Domina, ‚erst um ein Uhr erhalten. Es geht über Gransee, und der Bote muß weit laufen. Aber sie wollen ihm ein Rad anschaffen, solches, wie jetzt überall in Mode ist.'“ (Fontane, S. 80)

Das Fahrrad im Postdienste

Seit einiger Zeit hat die Reichspostverwaltung die ihr zur Verfügung stehenden Beförderungsmittel durch das Fahrrad vermehrt. Wo es sich um eiligen Dienst handelt, wie bei Bestellung von Telegrammen und Eilbriefen, kommt vielfach das Zweirad in Anwendung. Die gut gebauten und durch überaus leichten Gang ausgezeichneten Postzweiräder sind schon äußerlich leicht zu erkennen, da sie gelb bemalt sind und an der Lenkstande oberhalb des ersten Rades auf weißem Schilde einen Reichsadler führen. – Die Dreiräder werden erst seit kurzem zur Beförderung der Briefbeutel von den Bahnhöfen zu den Stadtpostämtern und bei Entleerung der Briefkästen benutzt. Aehnlich wie die Geschäftsdreiräder sind sie mit einem abnehmbaren Kasten versehen. Räder und Kasten sind gelb lackiert und der letztere ist auf beiden Seiten mit dem Feld geschmückt.
Unsere Abbildung führt uns in ihrem unteren Teile einen Postradfahrer vor, der Telegramme bestellt. Das Hauptbild stellt eine Scene dar, die man täglich auf dem oberschlesischen Bahnhof in Breslau beobachten kann. Eine ‚Batterie‘ von Postdreirädern steht vor der Rampe des Bahnhofpostamtes und nimmt für die verschiedenen Stadtpostämter die Briefbeutel in Empfang, die der um ¾ 6 Uhr morgens aus Berlin ankommende Schnellzug gebracht hat. Die Verwendung der Dreiräder für den Postdienst hat sich im Laufe des Sommers bewährt; ob die Beförderung im Winter auf verschneiten Straßen sich glatt abwickeln kann, wird die nächste Zukunft lehren.

Das Fahrrad im Postdienst_Die Gartenlaube H_25_1898_S_804

 (Die Gartenlaube 1898, S. 804)

Unzuverlässigkeit des Fahrrades als Mittel der Postbeförderung

Die Anwendbarkeit des Fahrrades wird eben wesentlich durch die Ortsverhältnisse beeinträchtigt, was namentlich für den Botenverkehr ins Gewicht fällt, der in der Regel nicht die großen gebahnten Kunststraßen aufsuchen kann, sondern im Gegentheil seine Hauptthätigkeit auf den minder ebenen Nebenwegen zu entfalten hat. Bei den Proben, welche vor einigen Jahren mit der

Indischer Postbote auf Fahrrad_ Geistbeck_Weltverkehr 1895_S 409
Indischer Postbote – 1895

Verwendung von Fahrrädern im Landpostdienste des deutschen Reichspostgebietes angestellt wurden, ergab sich, daß die Räder bei einem Durchschnitte von 408 Tagen nur an 244 Tagen hatten benutzt werden können. An 164 Tagen mußten sie teils wegen ungünstiger Witterung und in deren Folge eingetretener schlechten Beschaffenheit der Straße, teils wegen Ausbesserungen unbenutzt bleiben. Für einen Dienst, der wegen der zu erreichenden Anschlüsse auf gleichmäßige Bemessung der Beförderungszeiten nicht verzichten kann, ist ein Vehikel, das so oft versagt, nicht geeignet. (Geistbeck 1895, S. 409f.)

Das österreichische elektrische Post-Tricycle

Es hat verhältnismäßig lange gedauert, bis das Velociped sich vom Kinderspielzeug zum Sportvehikel und dann mit reißender Schnelligkeit zu einem wahrhaft praktischen, für die verschiedensten Zwecke verwendbaren Locomotionsapparat entwickelt hat.

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Österreichisches Post-Tricycle – 1896

Seine Bedeutung als solches konnte es jedoch natürlich erst erlangen, als die Technik anfing, es mit jenen Verbesserungen und Vervollkommnungen auszustatten, die es gegenwärtig besitzt, und welche es –abgesehen von der noch ungelösten Frage der Verwendung von Dampf, comprimirter Luft, Elektricität etc. als Triebkraft – zu einem im wesentlichen kaum noch verbesserungsfähigen, maschinellen Typus gestalten.

Das anfangs viel belächelte Sportvehikel, das ursprünglich bei seinem zufälligen Erscheinen außerhalb der Rennbahnen und Uebungsplätze nur mit spöttischen Bemerkungen begrüßt wurde, hat im Laufe der letzten Jahre durch seine Verwendbarkeit in der ganzen civilisirten Welt sich ebenso siegreichen Eingang verschafft wie die einst viel gelästerte Nähmaschine.
Ist auch, wie erwähnt, im wesentlichen das moderne Velociped kaum noch, es sei denn in einzelnen Details, verbesserungsfähig, so bedingt doch seine immer zunehmende Verwendung zu neuen Zwecken eine den speciellen Anforderungen anzupassende Modification in der Construction, kurz gesagt die Schaffung von Typen, die speciellen Bedürfnissen zu dienen haben. Wie die Locomotive, das Dampfschiff, die Equipage, die Wagen und Karren den verschiedenen Leistungen, zu denen sie verwendet werden, entsprechend construirt, gewisserrmaßen individualisirt werden, so muß auch das moderne Vehikel, das Velociped, den verschiedenen Anforderungen angepaßt werden, die an sein Leistungsfähigkeit gestellt werden.
Ein neuester Typus dieser Art, ist das von der Oberpostdirection seit kurzem versuchsweise in Dienste gestellte Tricycle, das nach Angaben des wiener Velocipedspecialisten A. Curjel construirt wurde. (Zeitschrift für Elektrotechnik  1896, S. 30)

Literatur
Das Fahrrad im Postverkehr. In: Die Gartenlaube H. 25/1898, S. 804
Fontane, Theodor 1980: Der Stechlin. Werke, Schriften und Briefe, Abteilung I, Bd. 5, München: Carl Hanser
Geistbeck, Michael [1895]: Der Weltverkehr. Seeschiffahrt und Eisenbahnen, Post und Telegraphie in ihrer Entwicklung. Freiburg im Breisgau: Herdersche Verlagshandlung
Zeitschrift für Elektrotechnik. Organ des Elektrotechnischen Vereins in Wien.Wien 1896, S. 30

Abb. Das Fahrrad im Postdienste aus Die Gartenlaube H. 25/1898, S. 804
Abb. Indischer Postbote aus Geistbeck 1895, S. 409
Abb. Österreichisches Post- Tricyle  aus Illustrirter Zeitung Nr. 2278/1887, S. 219

1928 – Lichtbildarbeitsgemeinschaften in Preußen

In der Diskussion um die Rolle der Schulphotographie in den 1920er Jahren Lichtbildarbeitsgemeinschaft Agfatauchen Argumente, Probleme und Initiativen auf, die in mancher Hinsicht an aktuelle Diskussionen erinnern. Dies gilt nicht nur für die reformpädagogische Leitidee, die zur Einrichtung von Arbeitsgemeinschaften und damit auch zu Lichtbildarbeitsgemeinschaften führte: „Nur was erarbeitet ist, das besteht und wirkt. Das Wissen muß auch einmal Problem gewesen sein und aus ein Wollen heraus selbstgestecktes Ziel.“ (Gläser 1920 – zitiert nach Böttcher o. J., S. 7)

Wenn es um Medien und Schule geht, gibt es offensichtlich unvermeidliche Klagen. Geklagt wurde schon um 1920 über die mangelnde technische Ausstattung der Schulen, über unzureichende technische und inhaltliche Kompetenzen der Lehrkräfte sowie über fehlende Fortbildungsangebote. Daneben tauchte die Forderung nach einem eigenen Schulfach bzw. nach Einführung von speziellen Lehrgängen auf. Doch ein fächerintegrativer Ansatz, der über die Naturwissenschaften hinaus Deutsch, Geschichte und Kunst einschloß, setzte sich, sofern die Fotografie überhaupt Eingang in die Lehrpläne fand, durch. Als zusätzliches Argument für die Beschäftigung mit der Fotografie diente der Hinweis auf die Verwertbarkeit fotografischer Kenntnisse im späteren Berufsleben.

Aktiv unterstützt wurden die Bestrebungen zur Förderung der „Schulphotographie“ von der Industrie, hier in erster Linie von AGFA. So wurden Wettbewerbe ausgeschrieben, erhielten hervorragende Schüler Box-Kameras als Prämie und AGFA stattete alle Schulen flächendeckend mit jeweils mehreren Fotoapparaten aus. AGFA ergriff auch inhaltlich die Initiative und veröffentlicht 1929 ein „Stoffplan für die photographische Unterweisung in den Lichtbildarbeitsgemeinschaften.

Lichtbildarbeitsgemeinschaften
Lichtbildbeitsgemeinschaften für Schüler und Schülerinnen

Da seit einiger Zeit die praktische Betätigung von Schülern und Schülerinnen auf dem Gebiet der Photographie einen größeren Umfang annimmt, erscheint es angebracht, daß die berufenen Kreise diese sehr zu begrüßende Bewegung in richtige Bahnen lenken. An einigen Schulen ist man dazu übergegangen, die photographierenden Schüler und Schülerinnen zu sogenannten Lichtbildarbeitsgemeinschaften zusammenzufassen, in denen die Beteiligten neben einer ästhetischen Schulung eine photographische Ausbildung erhalten, damit sie gegebenfalls in der Lage sind, ihre photographische Kunst in den Dienst der ganzen Schule zu stellen. In gemeinsamer Arbeit von Lehrern und Schülern werden die Lichtbildsammlungen ergänzt oder zum Teil für die Sondergebiete neu geschaffen. Eine derartige Selbstherstellung von Lichtbildern jeder Art bietet auch erhebliche wirtschaftliche Vorteile, die bei der schwierigen finanziellen Lage der Schulen noch mehr ausgenutzt werden müssen. Die photographische Arbeitsgemeinschaft ist abwechselnd an die hierfür geeigneten Fächer anzugliedern, damit eine phototechnische Unterweisung der daran interessierten Schüler ständig stattfindet. […]

Berlin, den 9. Juli 1928 – Der Minister für Wissenschaft, Kunst u. Volksbildung, H. 15/ S. 244

LichtbildarbeitsgemeinschaftenHeimatphotographie

Es ist bei mir angeregt worden, bei der praktischen Betätigung der Schüler und Schülerinnen auf dem Gebiet der Photographie auch das Gebiet der Heimatphotographie heranzuziehen. […] Es wird sich hierbei zunächst darum handeln, das wertvolle Heimatgut, das die Natur darbietet, in Form von technisch einwandfreien und ästhetisch befriedigenden Aufnahmen zu bergen. Als Gegenstände der photographischen Erfassung kämen in erster Linie die in der engeren Heimat vorhandenen Naturdenkmäler in Betracht, vor allem ehrwürdige Baumgestalten, erratische Blöcke und andere Einzelschöpfungen der Natur von Naturdenkmalwert. Bei einer solchen Zielsetzung würde in gemeinsamer Tätigkeit gewissermaßen zwangsläufig die Inventarisierung der Naturdenkmäler der Umgebung des Schulortes durchgeführt werden.

Kamera und NaturschutzWeiter wären charakteristische Züge der heimatlichen Natur, wie Waldstücke, Gebüschgruppen, Felsgebilde, Flußufer, Flußschlingen, Altwässer, Moore, Seen, Teiche, Dünen und vieles andere, photographisch zu meistern. Auch typische Pflanzengesellschaften und Einzelpflanzen sowie Tiere und ihre Bruten bieten eine Fülle von Objekten dar, an denen die photographische Kunstfertigkeit geübt werden kann.

Es ist zu erwarten, daß diese Art der photographischen Betätigung einmal zu einer sehr ersprießlichen Zusammenarbeit verschiedener Fächer führt, und daß andererseits der Naturschutzgedanke aus solcher Betätigung kräftige Anregung empfängt.

Ich halte es für wünschenswert, die aus der vorgeschlagenen Art der Betätigung photographischer Arbeitsgemeinschaften gewonnenen Aufnahmen der Allgemeinheit zugänglich zu machen. […]“

Berlin, den 22. Mai 1930 – Der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, H.11/ 1930, S. 178

Lichtbild und Schule

Literatur
Böttcher, Horst: Schulphotographie damals und heute. 22 Lehrbrief für audio-visuelle Kommunikation hrsg. vom Bundesgremium für Schulphotographie, Syke o. J.

1872 – Die Postkarte aus volkswirtschaftlicher Sicht

„[…], so können wir wohl kühn behaupten, daß der Briefverkehr viel  entschiedener, als der Seifenconsum, wie Liebig, oder als der Eisenkonsum, wie Mischler meinten, der Gradmesser der Bildung und wirthschaftlichen Entwicklung sei. Aber er ist nicht nur der Ausfluß der Bildung und wirthschaftlichen Entwicklung, er ist auch einer der thätigsten Begründer. Daher fördert Alles, was den Briefverkehr erleichtert, auch die Bildung und die wirthschaftliche Wohlfahrt in nicht hoch genug zu schätzender Weise.“ (Herrmann 1872, S. 74f.)

Die Postkarte wurde 1869 in Österreich-Ungarn eingeführt. Preußen und die anderen deutsche Staaten folgten 1870. Zur Einführung der Postkarte in Österreich-Ungarn trugen entscheidend die publizistischen Aktivitäten von Emanuel Herrmann, Professor für Nationalökonomie und Enzyklopädie an der Militärakademie in Wiener Neustadt, bei. Er selbst betrachtete sich dabei nicht als alleiniger Erfinder“ der Postkarte, sondern verwies darauf, dass der königlichen preußische Delegierte Heinrich Stephan „ein solches Projekt“ schon 1865 auf der Postkonferenz in Karlsruhe vorgestellt hatte. (Herrmann 1872, S. 87)
Die Einführung der Postkarten kam einem Streben nach Rationalisierung und Modernität entgegen. So wirbt Hermann im Januar 1869 im Abendblatt der Neuen Freien Presse mit volkswirtschaftlichen Argumenten für diese „neue Art der Correspondenz mittelst der Post“. Herrmann_Berechnung_Briefkosten S_75

„Wohl wenige berechnen, wie hoch eigentlich dem Einzelnen die Kosten des Briefeschreibens kommen. Man möge uns nicht der Kleinlichkeit zeihen, wenn wir hier einen Überschlag über die Kosten von hundert Briefen geben, welche ein Gebildeter oder ein Geschäftsmann gewiß jährlich schreibt.“ (Herrmann 1872, S. 75)

In seinen Berechnungen geht Herrmann davon aus, dass sich die Kosten für die hundert Millionen Briefe, die während eines Jahres in Österreich geschrieben wurden, auf nahezu zwanzig Millionen Gulden belaufen. Ein Drittel dieser Briefe entfalle auf Benachrichtigungen, deren Inhalt „selten etwas Anderes als die gewöhnlichsten Notizen oder Gratulationen u.s.w. enthält“. Für diese einfachen Benachrichtungen sei weder ein Briefumschlag noch ein Siegel erforderlich. Hier könne man mit der Postkarte eine „Art Posttelegramm“ schaffen und so einen erheblichen Teil der Kosten einsparen, ohne den Briefverkehr zu beeinträchtigen.

„Wie groß wäre aber die Ersparniß an Briefpapier, Couverten, Schreib- und Lese-Arbeit, wie groß wäre die Zeitersparniß bei einer solchen Einrichtung! […] Dies alles bliebe weg, man könnte sich, wie man ja schon lange bei dem Telegramme zu thun gewohnt ist, auf die unumgänglich nothwendigen Ausdücke beschränken. Wir besäßen in Bälde eine eigene Telegramm-Briefsprache, […]! (Herrmann 1872, S. 76)

Ähnliche Überlegungen finden sich bereits in der Denkschrift Heinrich Stephans, die dieser 1865 der Postkonferenz in Karlsruhe vorgelegt hatte.

 

Weitläufigkeiten treffen den Absender, wie den Empfänger. In unseren Tagen hat das Telegramm bereits eine Gattung von Kurzbriefen geschaffen. Die jetzige Briefform gewährt für eine erhebliche Anzahl von Mittheilungen nicht die genügende Einfachheit und Kürze. Die Einfachheit nicht, weil Auswahl und Falten des Briefbogens, Anwendung des Couverts, des Verschlusses, Aufkleben der Marke u.s.w. Umständlichkeiten verursachen; und die Kürze nicht, weil, wenn einmal ein förmlicher Brief geschrieben wird, die Convenienz erheischt, sich nicht auf die nackte Mittheilung zu beschränken. Die Weitläufigkeiten treffen den Absender, wie den Empfänger. In unseren Tagen hat das Telegramm bereits eine Gattung von Kurzbriefen geschaffen. Nicht selten telegraphirt man, um die Umständlichkeit des Schreibens und Anfertigens eines Briefes zu ersparen. Auch die Uebersendung einer Visitenkarte u.s.w. ersetzt für verschiedenen Gelegenheiten einen förmlichen. Brief.“ (Heinrich Stephan 1865 – zitiert nach Herrmann 1872, S. 83)

Correspondenz-Karte_Österreich  1.10.1869

Bei der Einführung der Postkarte musste eine Reihe von Entscheidungen getroffen werden. Leitender Gesichtspunkt war dabei, „die Manipulation der Postbeamten hinsichtlich der Postkarten so einfach und gleichmäßig als möglich zu machen“. (Herrmann 1872, S. 79) Die gesamte Gestaltung der Postkarte erfolgte unter diesem Gesichtspunkt. Dazu zählten die Wahl eines „möglichst kleinen und für den Postbeamten handsamen Formats“, die Vorgabe von Feldern für die Angaben über Empfänger und Absender sowie ein fester Platz für das eingedruckte Postwertzeichen, um das Abstempeln zu erleichtern. Da dies zu einem unüberschaubaren Arbeitsaufwand geführt hätte, verzichtete man von vornherein darauf – in Anlehnung an das Telegramm – das Porto nach Umfang der Mitteilung zu staffeln bzw. die Länge der Mitteilung zu begrenzen.

Würde man dem correspondirenden Publicum überlassen, die Größe, Stärke, Farbe, Zusammenlegung und Adressierung der Postkarte zu bestimmen, so würde der inviduelle Geschmack und die zufällige Lage jedes Einzelnen gar bald eine solche Mannigfaltigkeit von Formaten, Stärken und Faltearten, von Aufschriften und Nenutzungsweisen erzeugen, daß die Manipulation im Postdienste dadurch erschwert würde.“ (Herrmann 1872, S. 79)

Die Postkarte mit ihrer ungewohnten Form der „offenen Mitteilung“ stieß anfangs durchaus auf Vorbehalte. In einer Anmerkung auf der Rückseite der Postkarte lehnte die Post jegliche Verantwortung für den Inhalt der Mitteilung ab, da man sich bewusst war, dass eine durchgehende Kontrolle der Inhalte nicht möglich sein würde.

„Schließlich sei hier noch mit wenigen erläuternden Worten jener Bestimmung der obigen Verordnung gedacht, wonach die Karten dann von der Beförderung auszuschließen sind, wenn wahrgenommen wird, daß hiermit Unanständigkeiten, Ehrenbeleidungen oder sonst strafbare Handlungen beabsichtigt werden. Diese Bestimmung ist ein nothwendiges Correktiv für jene Fälle, wo die Karten zu injuriösen oder unsittlichen Mittheilungen mißbraucht werden wollen, die eben, weil sie offen durch die Hände der Postbediensteten laufen, für den Adressaten sehr verletzend sind und häufig zu Collisionen mit den bestellenden Individuen Anlaß geben würden.“ (Herrmann S. 88 f.)

Literatur
Herrmann, Emanuel: Drittes Bild. Die Correspondenz-Karte, in: ders.: Miniaturbilder aus dem Gebiete der Wirthschaft, Verlag von Louis Nebert: Halle a. S. 1872, S. 74 – 133

Medien verändern unsere Wahrnehmung

„Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.“ (Walter Benjamin 1974, S. 17) Wahrnehmungsweisen verändern sich. Diese Veränderungen sind schwer nachzuvollziehen, da es sich um langsame und subtile Prozesse handelt und weil uns unsere eigenen Wahrnehmungsformen so selbstverständlich und natürlich erscheinen, dass sie uns normalerweise gar nicht bewusst und schon gar nicht zum Problem werden. 1985 konnte die Firma Kodak mit dem Slogan werben „KODAK Filme sehen Filme sehen den Knall Spiegel 1985den Knall besser als den Mensch“. Auf dem dazu gehörenden Foto ist ein Luftballon in dem Moment zu sehen, in dem er zerplatzt.

Lumière
Direkte Reproduktion einer Momentaufnahme der Herren Lumière mit Hilfe der Heliogravüre (Verfahren nach Charles G. Petit- Autotypie). – Belichtungszeit 1/300 Sekunde.

1886 veröffentlichte die populärwissenschaftliche Wochenzeitschrift La Nature einen Artikel zum Thema „Momentfotografie“. Gegenstand des Artikels sind die interessanten Ergebnisse, die mit der Momentfotografie in allen Bereichen der Wissenschaften und Künste erzielt werden. Konkreter Anlass ist ein Foto der „Herren Lumière aus Lyon“, die damit die Leistungsfähigkeit der von Louis Lumière entwickelten Bromsilber-Gelatine-Trockenplatten demonstrieren, deren hohe Lichtempfindlichket sehr kurze Belichtungszeit ermöglichen.* (Durch den Hinweis auf  die „Heliogravüre“ wird unterstrichen, dass ein fotografisches Reprodukionsverfahren eingesetzt wurde, durch das eine originalgetreue Kopie der Vorlage garantiert wird.)

Neben den Wissenschaftlern seien es nicht zuletzt die Künstler, die Bewegungsabläufe erkennen, von denen sie nie eine Vorstellung haben konnten, weil sie sich unsere Wahrnehmung entziehen. „Es ist möglich, dass die Momentaufnahmen unsere Augen mit der Zeit mit Darstellungen vertraut machen wird, an die wir bisher nicht gewöhnt waren, und unsere Wahrnehmung verändern wird.“ (La Nature 1886, S. 46)

Wie schwierig es war, sich an diese neuen Sichtweisen zu gewöhnen, zeigt sich auch daran, dass Wissenschaftler wie Marey den Nachweis für die Korrektheit ihrer Bwegungsstudien auf das Medium „Phenakistiskop“ angewiesen. Erst die Präsentation der Einzelbilder in der richtigen Reihenfolge und mit der richtigen Geschwindigkeit mit mindestens 10 bis 12 Bildern pro Sekunde erbrachte den Beweis für die wissenschaftliche Relevanz der Chronophotographie.

„In neuerer Zeit hat Muybridge sich damit beschäftigt, eine Reihe von Aufnahmen trabender und galoppirender Pferde zu machen, welche die einzelnen auf einander folgenden Phasen der Körperbewegung des in eiligem Laufe befindlichen Pferdes in ebenso vielen Einzelbildern festhalten. Da kamen nun, namentlich unter den Bildern des galoppirenden Pferdes, die unglaublichsten Positionen vor, unter Anderem eine, bei welcher das Pferd mit gegen den Bauch geschlagenen Vorder- und Hinterbeinen frei in der Luft schwebt. Man hat diese Bilder, welche sich auch auf der Pariser Weltausstellung befanden, vielfach angezweifelt, allein andererseits hat man den Beweis, daß diese unmöglich erscheinenden Stellungen wirklich den galoppirenden Pferden eigenthümlich sind, dadurch geführt, daß man die Einzelbilder in der richtigen Reihenfolge in einem sogenannten Zootrop verband, einer drehenden Trommel, deren Wandung so viele Gucklöcher enthält, wie Einzelbilder einer zusammengesetzten Bewegung die innere Wand auskleiden. In diesem Apparat, den man mit den verkleinerten Copien der Muybridge’schen Pferdebilder von der Expedition der Pariser Wochenschrift ‚L’Illustration’ beziehen kann, setzt sich der natürlichste Trab oder Galopp eines Pferdes wieder aus den Einzelbildern zusammen.“ (Aus: Die Gartenlaube 1879 Nr. 25, S. 428)

* Von diesen Fotoplatten unter dem Namen „Etiquette bleue“ produzierten die Fabriken der Familie Lumière bis zu 15 Millionen Stück pro Jahr – und schafften damit die Grundlage für das Vermögen der Familie Lumière.