Medialitätsbewusstsein (5): Grafische Darstellungen als Evidenzerzeuger

Statistiken und statistische Darstellungsverfahren werden zu Themen der Medienbildung, weil sie Phänomene sichtbar machen, die sich der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen. Ein Beispiel hierfür liefert die Klimadiskussion. Während Wetter als Zustand der Atmosphäre erlebbar ist, trifft dies auf das Klima nicht zu. Klima lässt sich nur durch Messreihen, bei denen die Daten über Zustände der Atmosphäre über einen längeren Zeitraum erhoben werden, erfassen.Klima

Zahlen in „Bilder“ umgesetzt, veranschaulichen quantitative Zusammenhänge, interpretieren durch die Art der gewählten Darstellung, entlasten von Interpretationsarbeit und ermöglichen Erkenntnisse, die über eine Auflistung von Informationen in Tabellen nicht zu erzielen sind. Die Darstellung komplexer Phänomene in Graphen und Diagrammen setzt immer medienbasierte „wissenschaftliche Fundamentalakte“ wie das Messen, Erfassen und Ordnen von Daten voraus. (Böhme 2004, 227)

Die Methoden zur grafischen Darstellung von Daten entwickelten sich mit der Verbreitung Zwischenablage02statistischer Methoden seit dem 17. Jahrhundert. Als Pionier der grafischen Informationsvermittlung gilt der Franzose Charles Joseph Minard. Seine bekannteste Arbeit ist die 1869 veröffentlichte Karte über Napoleons verheerenden Russlandfeldzug von 1812/1813. Die Grafik vermittelt in einer einzigen zweidimensionalen Darstellung eine große Anzahl von Variablen:

  • Position und Marschrichtung der Armee, Abspaltung und Wiedervereinigung von Truppenteilen,
  • die (abnehmende) Truppenstärke – besonders markant ist z. B. die Überquerung des Flusses Beresina im Rückzug,
  • die ungewöhnlich niedrigen Temperaturen, die den Rückzug zusätzlich erschwerten. Die Temperaturangaben sind in Réaumur (−30 °Réaumur = −37,5 °Celsius).

Es gibt keine einheitliche Begrifflichkeit für die verschiedenen Formen visueller Darstellungen, die in der Wissenschaft, in den Massenmedien sowie in der Wirtschaft und Verwaltung Anwendung finden. Geht man von der übergreifenden Funktion der visuellen Darstellungen aus, bietet es sich an, die Bezeichnung „Infografik“ als Oberbegriff zu wählen.
Innerhalb der Infografiken lassen sich drei große Gruppen unterscheiden, nämlich logisch-analytische Bilder (Charts, Diagramme und Graphen), erklärende Schaubilder sowie Karten. Wobei diese visuellen Darstellungsformen miteinander kombiniert werden können. Ergänzt werden müsste diese Einteilung um dynamische Darstellungen (Filme und Animationen), interaktive Darstellungen und Simulationen.
Visuelle Darstellungen können unterschiedliche Funktionen übernehmen. Sie

  • „erklären Abläufe, Entwicklungen und Funktionsmechanismen.
  • zeigen Verteilungen, Muster oder Anordnungen.
  • wecken Assoziationen, helfen bei der Entwicklung und Entdeckung von Konzepten, Modellvorstellungen usw.
  • sind Beweismittel, aber auch Werkzeuge der Analyse und Erkenntnisgewinnung.“ (Heßler u. a. 2004, S. 22)

Visuellen Darstellungen kommt seit dem 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle sowohl bei der Konstruktion  und Strukturierung als auch bei der Kommunikation und Distribution von Wissen in den Natur- und Sozialwissenschaften zu. Durch den Einsatz des Computers haben visuelle Darstellungen noch entscheidend an Bedeutung gewonnen, denn die Visualisierung von Daten wird immer wichtiger für die Wissensproduktion und die Vermittlung komplexer Informationen.
Grafische Darstellungen wirken aufgrund ihrer Bildlichkeit im Vergleich zu verbalen und numerischen Darstellungen suggestiv. Ihr Sinn scheint sich häufig unmittelbar zu erschließen. Bei den modernen bildgebenden Verfahren ist Visualisierung und anschauliche Evidenz unverzichtbar, da die Fülle der Daten nur über ihre Visualisierung interpretiert und ausgewertet werden kann. Um so wichtiger erscheint, es Bewusstsein für die Medialität grafischer Darstellungen zu vermitteln.

Literatur
Böhme, Hartmut [2004]: Das Unsichtbare – Mediengeschichtliche Annäherungen an ein Problem neuzeitlicher Wissenschaft. In: Krämer, Sybille [Hrsg.]: Performativität und Medialität. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 215 – 245.
Heßler, Martina in Zusammenarbeit mit Hennig, Jochen; Mersch, Dieter [2004]: Explorationsstudie im Rahmen der BMBF-Förderinitiative „Wissen für Entscheidungsprozesse“ zum Thema Visualisierungen in der Wissenskommunikation – vorgelegt im Januar 2004

Abbildung
Charles Joseph Minard: Wiki Commons
Hockeyschläger-Diagramm: Wiki Commons

Medienpädagogischer Blick auf „Die Anatomie des Dr. Tulp“

Das Gemälde „Die Anatomie des Dr. Tulp“ wurde um 1632 von Rembrandt fertig gestellt. Bei Dr. Tulp (1593 bis 1674) handelte es sich um einen Bürgermeister der Stadt Amsterdam, der gleichzeitig einer der bekanntesten Ärzte des 17. Jahunderts war. Wie sein großes Vorbild, der Anatom Andreas Vesalius, lässt er sich bei der Präparation eines Arms porträtieren. Rembrandt „zitiert“ in dem Gemälde den präperierten Arm aus einem Holzschnitt,  auf dem Andreas Vesalius zu sehen ist.

Einige der Teilnehmer an der anatomischen Vorlesung blicken über die Leiche hinweg ganz offensichtlich auf einen anatomischen Atlas. Damit liefert das Gemälde ein _Anschauungsbeispiel für die oftmals übersehene Bedeutung der Drucktechnik für die Verbreitung von Abbildungen.

Für die Entwicklung von Technik und Wissenschaft war es entscheidend, dass mit dem Aufkommen des Buchdrucks nicht nur Texte vervielfältigt werden konnten, sondern auch Bilder, Karten und Diagramme. Die Bedeutung der Tatsache, dass erst durch den Druck von Stichen die genaue Wiederholung bildhafter Aussagen möglich wird, tritt deutlicher hervor, wenn man sich vor Augen hält, dass schon in der Antike Gelehrte wie Plinius der Jüngere sehr wohl wussten, dass sich einerseits Blumen oder Blätter mit Worten nicht so beschreiben lassen, dass ein Leser sie in der Wirklichkeit sicher wieder erkennt und dass andererseits Zeichnungen beim Kopieren einer Handschrift viel schneller korrumpiert werden als der Text. Die „blickbildende“ und „blicknormierende“ Funktion von Drucktechniken wie Kupfer- und Holzstich zeigt sich u. a. in der Medizingeschichte. Aus der Entwicklung der Anatomie kann man lernen, dass sich das Körperinnere dem Blick nicht so klar strukturiert darstellt, wie es unseren durch Abbildungen in Biologiebüchern und Lexika normierten Vorstellungen erscheinen mag.
„… erst die Druckgraphik ermöglichte naturwissenschaftliche Beschreibung, die Kritik solcher Mitteilung und die schrittweise Annäherung der Darstellung an das Objekt. Der Druck von Zeichnungen auf dafür behandelten Holzblöcken, Kupferplatten oder Steinen ist nicht nur eine optische, sondern auch eine blickbildende Technik.“ (Duden 1991, S. 46)

Quellen:
http://www.wgsebald.de/anatomie.html
Duden, Barbara: Der Frauenleib als öffentlicher Ort: vom Missbrauch des Begriffs Leben, Hamburg und Zürich 1991
Wagner, Wolf-Rüdiger: Medienkompetenz revisited, kopaed München 2004, S. 116 f.

Abbildungen:
„Die Anatomie des Dr. Tulp“ – http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Anatomie_des_Dr._Tulp
„Andreas Vesalius“ – http://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Vesalius

Darwin-Jahr: Stammbaum oder Busch, Netz, Koralle?

Der Stammbaum – eine in Adelskreisen übliche Darstellung der Verwandschaftsbeziehungen – hat sich als scheinbar intuitiv verständliches Bild für den Ablauf der Evolution etabliert. Welche Botschaften diese Form der Visualisierung transportiert, zeigt sich z. B. an der von Ernst Haeckel (1874) gewählten Darstellungsform.

Sein Stammbaum ist deutlich als Eiche zu erkennen, an deren breitem Fuß „befinden sich Amöben und einfachste Urlebewesen. Über Würmer, Fische und Amphibien strebt der Stamm in die Höhe zu den Säugetieren, bis nach ganz oben in den Baumwipfel zum Menschen als Krone der Schöpfung.“ (Rögener 2009)

In dieser Darstellung wird aus der „Evolutionsgeschichte eine Fortschrittsgeschichte von aufsteigender Stufenfolge. Aus naturwissenschaftlicher Sicht gibt es keinen Grund die Säugetiere und den Mensch als Höhe- und Endpunkt der Evolution zu sehen, sind doch Insektenarten durchaus erfolgreicher.

Für Darwin hatte die Evolution kein Ziel: „Darwin selbst verglich die Abfolge der Arten mal mit einem Baum, mal mit einer Koralle. Andere Forscher favorisierten Netze, Flüsse, kreisförmige Diagramme oder waagerecht verzweigte Strichzeichnungen.“

Neben dem immer noch populären „Stammbaum“ gibt es eine Reihe anderer Darstellungsformen für den Verlauf der Evolution, z. B. kreisförmige Darstellungen, bei denen es keine Rangordnung von unten nach oben, sondern nur ein Auseinanderstreben und Verzweigen der Arten gibt. Auch für den „horizontalen Gentransfer der Bakterien“ passt das Denkmuster vom „Baum der Evolution“ nicht.

Rögener, Wiebke: Der Stammbaum war einmal – sueddeutsche.de 22.06.2009

http://www.sueddeutsche.de/wissen/365/472885/text/9/

Vgl. auch Voss, Julia: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 – 187, Frankfurt am Main 2007, S. 160 ff;